© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Das Ergebnis stand schon vorher fest
Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken: Eine unbefangene Untersuchung des Bundeswirtschaftsministeriums hat es nie gegeben
Werner Becker

Fettgedruckt und mit einem dicken Pfeil versehen. So präsentierten das Bundesumweltministerium und das Bundeswirtschaftsministerium am 7. März ihr Fazit einer „Prüfung des Weiterbetriebs von Atomkraftwerken aufgrund des Ukraine-Kriegs“. Das Ergebnis lautete: Nach einer Abwägung von Nutzen und Risiken sei „eine Laufzeitverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke auch angesichts der aktuellen Gaskrise nicht zu empfehlen“. Damit war nach Ansicht von Wirtschaftsminister Robert Habeck und seiner Amtskollegin im Umweltministerium, Steffi Lemke (beide Grüne), alles gesagt. Energiewirtschaftlich hätten längere Laufzeiten für Kernkraftwerke keinen großen Effekt, wohingegen ihr Weiterbetrieb ein hohes Risiko für den „Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit“ darstelle. 

Die Grünen hatten endlich ihr gewünschtes Narrativ, das sie in den folgenden Monaten auch fleißig bedienten. Wann immer die Opposition in der sich zuspitzenden Energiekrise forderte, Kernkraftwerke länger laufen zu lassen, um das Risiko von Blackouts zu minimieren, Gas bei der Verstromung einzusparen und mit allen vorhandenen Kraftwerkskapazitäten für Entspannung auf dem Strommarkt zu sorgen, erwiderten Habeck und die Grünen-Parteispitze: Haben wir alles ganz sachlich geprüft. Bringt nichts. Deutschland habe ein Gas- und kein Stromproblem, versicherten sowohl der Wirtschaftsminister als auch Grünen-Chefin Ricarda Lang.

Bereits vor dem offiziellen Ergebnis zirkuliert ein Argumentationspapier

Doch Recherchen der Welt und des Cicero zeigen nun: Ganz so ergebnisoffen, wie die Ampel-Regierung stets beteuerte, waren die Prüfungen über einen Weiterbetrieb der verbliebenen drei Kernkraftwerke offensichtlich nicht. Im Gegenteil: Schon vor dem offiziellen Ergebnis der Laufzeitprüfung existierte in den beiden zuständigen Ministerien ein Argumentationspapier, wonach ein Weiterbetrieb abgelehnt werden sollte. Zudem fand eine positive Einschätzung des Kernkraftbetreibers EnBW über das sicherheitstechnische Niveau der deutschen Anlagen im internationalen Vergleich ebensowenig Eingang in den amtlichen Prüfvermerk wie die Einschätzung zweier Mitglieder der Reaktorsicherheitskommission, laut der sich eine Laufzeitverlängerung dämpfend auf den Strompreis auswirken könnte. Dennoch veröffentliche das Bundesumweltministerium am 8. März eine Pressemitteilung, in der es versicherte, die Prüfung sei „ergebnisoffen“ vorgenommen worden und nicht „ideologisch“ geprägt gewesen. Ende Juni wiederholte das Ministerium dies nochmals ausdrücklich in einer weiteren Stellungnahme. Es habe bei der Frage nach Laufzeitverlängerungen keine „ideologischen Denkverbote“ gegeben. 

Wie sich das allerdings mit der nun bekanntgewordenen vorgefertigten ministeriumsinternen Argumentationslinie in Einklang bringen läßt, ist fraglich. Das sieht auch die Opposition so. Angesichts des Ernstes der Energiekrise sei das Prüfverhalten Habecks und Lemkes „geradezu empörend“, kritisierte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), gegenüber der Welt. Doch bei aller Aufregung der Union: Wirklich überraschend ist der Vorgang nicht. Daß die Prüfung in zwei grün geführten Ministerien nicht ergebnisoffen vonstatten gegangen war, hatte sich schon länger abgezeichnet. Bereits Mitte März hatte der wirtschaftspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Leif-Erik Holm, den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags mit einer Ausarbeitung beauftragt, was rechtlich und finanziell für und gegen den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke spreche. In ihrer Antwort, die der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, vermieden es die Rechtsexperten des Parlaments, dem Prüfvermerk der beiden Ministerien direkt zu widersprechen. Allerdings hielten sie dessen Ergebnis eine vielsagende Stellungnahme des Verbands Kerntechnik Deutschland entgegen, der zu einem völlig anderen Ergebnis kam. 

Seiner Ansicht nach könne „ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke ohne Abstriche beim vorhandenen Sicherheitsniveau erfolgen“, und zwar „ohne nennenswerte Mehrkosten pro Betriebsjahr“. Gleichzeitig warnte der Verband: „Ein effektiver Beitrag der Kernenergie zur Vorbeugung oder Verhinderung einer potentiell massiven Energiekrise erfordert rasche politische Weichenstellungen, denn wenn politische Zögerlichkeit und eine offenbar aktuell von der Bundesregierung nicht erwartete Zuspitzung im Energiebereich zusammenfallen sollten, wird es für wirksame Maßnahmen hinsichtlich der Kernkraftwerke möglicherweise zu spät sein.“ Davon aber wollte man im politischen Berlin zu der Zeit nichts wissen. Und auch für die meisten Medien mußte sich die Energiekrise erst weiter zuspitzen, bis sie begannen, das grüne Mantra der angeblich überflüssigen und gefährlichen Kernenergie kritisch zu hinterfragen.