© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Hauptstadt-Kampf um Stimmlokale
Paul Rosen

Wenn es um das Wahlrecht, Wahltermine oder Wahlkreiseinteilungen geht, sind im Bundestag starke Gezeitenkräfte am Werk. So auch im Fall der Bundestagswahlen, die ausgerechnet in der Hauptstadt vollends danebengingen (wie auch die Abgeordnetenhauswahl). Stimmzettel waren falsch oder fehlten ganz, viele Wahllokale blieben länger geöffnet als erlaubt.

Bundeswahlleiter Georg Thiel war so entsetzt, daß er für eine Wiederholung in jedem zweiten Berliner Wahlkreis plädiert hatte – das wären etwa 1.200 Wahllokale gewesen, in denen die Berliner Bürger ihre Stimme neu hätten abgeben können. Auch Bundesverfassungsrichter Peter Müller meinte: „So was hätte man sich vor einigen Jahrzehnten vorstellen können in irgendeinem diktatorischen Entwicklungsland, aber doch nicht mitten in Europa mitten in Deutschland.“ Das Bundesverfassungsgericht spielte die Aussage des Richters als dessen Privatmeinung herunter. Und im Bundestag beeilte man sich, aus dem Berliner Systemversagen eine Petitesse zu machen. In den Gremien wurde gerechnet und gerechnet. Und damit sich nicht allzuviel am Ergebnis der Bundestagswahl ändern könnte, wurde von der Ampelkoalition erwogen, die Wahl in 400 statt in den von Thiel geforderten 1.200 Wahllokalen zu wiederholen. Die theoretisch denkbaren Mandatsverschiebungen waren vielen in der Koalition aber immer noch zu weitgehend. So gab es auf einmal eine Vorlage für den Wahlprüfungsausschuß, in der nur noch von einer Wiederholung in 300 Wahlkreisen und nur bei der Zweitstimme die Rede war. Die Erststimme sollte außen vor gelassen werden. 

Diese Mini-Wiederholung muß offenbar zu wütenden Reaktionen des Wahlvolks geführt haben. Sogar Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) mahnte, Wähler müßten „darauf vertrauen können, daß Wahlen ordnungsgemäß ablaufen. Nur dann werden die Menschen auch zukünftig zur Wahl gehen.“ Im Bundestag griffen die Fraktionsexperten wieder zu den Taschenrechnern und spielten die Szenarien durch. Ergebnis: Jetzt soll in 431 der rund 2.300 Berliner Wahllokale neu gewählt werden – inklusive der Erststimmen. Die Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses soll am 7. November beschlossen werden. Das Parlament soll am 11. November darüber entscheiden. Die politischen Auswirkungen der Mini-Wahlwiederholung werden als gering bezeichnet. Im Bezirk Reinickendorf könnte die CDU-Kandidatin Monika Grütters, die 2021 nur knapp gegen den SPD-Kandidaten Thorsten Einstmann gewonnen hatte, diesmal den Wahlkreis verlieren. In Pankow könnte der Grüne Stefan Gelbhaar den Wahlkreis an den SPD-Mann Klaus Mindrup verlieren. Rein rechnerisch fehlen der SPD nur 802 Stimmen für ein zusätzliches Mandat, das die Partei am ehesten von der CDU holen könnte, wenn die CDU schlechter abschneidet als 2021. Erwartet wird, daß gegen die Entscheidung des Bundestages das Bundesverfassungsgericht angerufen werden wird. Dann wird sich zeigen, ob Verfassungsrichter Müller mit seiner Aussage vom diktatorischen Entwicklungsland beim Wort genommen werden kann.