© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Totgesagte leben länger
Österreich: Die konservativ-liberale ÖVP steckt in schweren Turbulenzen / Ermittlungen und stetig sinkende Umfragewerte setzen ihr zu
Robert Willacker

Als am 17. Mai 2019 die als „Ibiza-Video“ bekanntgewordenen Geheimaufnahmen von Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und seinem ehemaligen Stellvertreter Johann Gudenus publik wurden, titelte das reichweitenstarke Boulevardblatt Kronen Zeitung am Folgetag: „FPÖ am Ende!“ 

Dreieinhalb Jahre später liefert sich die Freiheitliche Partei Österreichs in nahezu allen Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Sozialdemokraten um Platz 1 im Land. „Totgesagte leben länger“ ist eine altgediente Volksweisheit, die insbesondere in der österreichischen Politik immer wieder Bestätigung findet. Es ist also Vorsicht geboten, wenn man aktuell die Zukunft der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) prognostizieren möchte, die sich derzeit in schweren Turbulenzen befindet. 

Im Laufe der juristischen Aufarbeitung des IbizaVideos rückte zunächst das direkte Umfeld des damaligen ÖVP-Kanzlers Sebastian Kurz und später auch er selbst in den Fokus der Staatsanwaltschaft. Grund dafür waren Chatfunde der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) auf dem Handy von Thomas Schmid, einer zentralen politischen Schaltstelle im Machtapparat der Kurz-ÖVP. 

ÖVP-Politiker Wolfgang Sobotka geißelt den „Vernichtungsfeldzug“ 

Schmid hielt erst als Generalsekretär im Finanzministerium sowie später als Vorstand der ÖBAG – der Unternehmensbeteiligungsgesellschaft der Republik – innenpolitisch zahlreiche Fäden in der Hand. Seine Chatnachrichten legten nahe, daß es hochrangigen ÖVP-Vertretern und ihrem Umfeld bei der Amtsausübung nicht in erster Linie um das Wohl der Bürger, sondern vor allem um ihr eigenes Fortkommen gegangen sein dürfte. 

Ob dabei auch Gesetze gebrochen wurden, ist derzeit noch Gegenstand von zahlreichen Ermittlungen und nicht abschließend geklärt. Zur Aufklärung trägt indes nicht nur das Handy von Thomas Schmid bei, sondern auch er selbst, teilte die Staatsanwaltschaft vergangene Woche mit: ohne das Wissen seines Anwalts und hinter dem Rücken der einstigen ÖVP-Getreuen habe Schmid bereits seit April dieses Jahres in mehr als einem Dutzend ganztägigen Befragungen umfangreich ausgesagt – er erhoffe sich Kronzeugenstatus, so die WKStA. 

Die Korruptionsermittlungen dürften einen nachhaltigen Vertrauensschaden in der christlich-konservativen Wählerschaft bewirkt haben, denn auch wenn zahlreiche Protagonisten aus der Kurz-Ära das ÖVP-Schiff bereits verlassen haben, sinkt es in Umfragen unerbittlich weiter: um die 20 Prozent Wähleranteil attestieren ihr derzeit nahezu alle namhaften Demoskopen. Das entspricht Verlusten von rund 17 Prozenpunkten seit der Nationalratswahl im Jahr 2019. Ein Ende des Niedergangs ist nicht in Sicht. Bei solch einem Absturz werden unweigerlich Erinnerungen an die einst nahezu allmächtige, italienische Democrazia Cristiana (DC) wach, die in den 1990ern erst in einem Korruptionssumpf und dann in der Bedeutungslosigkeit versank. 

In der ÖVP gibt man sich angesichts der angespannten Lage jedoch kämpferisch: „Beschuldigungen, die von einem Beschuldigten als Wahrheit genommen werden und gleich ein Urteil gesprochen wird. Ist das der Rechtsstaat, den wir wollen?“, kritisiert ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker gegenüber der Krone. Besonders drastisch drückt sich der Erste Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka aus, wenn er im Interview mit dem Nachrichtenmagazin profil sagt, daß es sich bei den Vorgängen um einen „Vernichtungsfeldzug gegen die ÖVP“ handele.