© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Wegducken und weiter geht’s
Nord Stream 1 und 2: Auf die Anfrage von AfD-Fraktionsvize Holm zur Funktionsfähigkeit der Pipelines gibt die Bundesregierung zaghafte Auskünfte
Hannes Beifang

Die Nachricht sorgte in der vergangenen Woche für Aufsehen. Anders als bislang angenommen, ist auch der zweite Strang von Nord Stream 2, die B-Röhre, nicht mehr betriebsfähig. Grund dafür sind die Anschläge auf die beiden Pipelines Nord Stream 1 und 2 Ende September.

Das zumindest behauptet die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage des AfD-Fraktionsvize Leif-Erik Holm. Es sei „sehr wahrscheinlich, daß der Sabotageakt mit starken Explosionen negative Auswirkungen auf beide Pipelinestränge hatte und die grundsätzliche technische Verfügbarkeit somit aktuell nicht mehr gegeben ist“, heißt es in der Antwort von Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen. Seine Aussage stieß auch deswegen im In- und Ausland auf größeres Interesse, weil bis dahin weithin angenommen wurde, daß über die B-Röhre nach wie vor Gas geliefert werden könnte. Der russische Energieminister Alexander Nowak hatte Anfang Oktober im russischen Staatsfernsehen gesagt, die zweite Röhre von Nord Stream 2 sei dafür noch „in technisch geeignetem Zustand“. Und auch Präsident Wladimir Putin bekräftigte Mitte Oktober das Angebot, Gas über die Pipeline zu schicken. Man müsse „nur den Hahn aufdrehen“, sagte er in Moskau.

Bezeichnenderweise hatte Staatssekretär Graichen zu dem Zeitpunkt die gleiche Ansicht vertreten. Am 11. Oktober hatte er auf eine Frage des AfD-Bundestagsabgeordneten Thomas Ehrhorn geantwortet, auf der Röhre B sei zwar ein Druckabfall registriert worden, der auf eine gezielte Druckreduzierung der russischen Seite hinweise. Dennoch gehe die Bundesregierung „davon aus, daß diese Röhre grundsätzlich technisch funktionsfähig ist“.Woher also der plötzliche Sinneswandel? 

Die Frage bleibt unbeantwortet, denn die Bundesregierung macht in ihrer Antwort an Holm keine Angaben dazu, woher sie ihre neuen Erkenntnisse hat. Im Gegenteil: Sie verweist auf die Untersuchung zu den Anschlägen durch die Betreibergesellschaften, die noch gar nicht begonnen hätten, weshalb die Bundesregierung „zum aktuellen Zeitpunkt keine Aussagen zum Zustand oder Möglichkeiten einer Reparatur geben“ könne. Mit anderen Worten: Offiziell weiß man nichts, geht aber davon aus, daß Lieferungen über die Röhre nicht möglich sind. Daß Berlin inoffiziell durchaus mehr weiß, legt dagegen eine Antwort auf eine weitere Anfrage Holms nahe, in der die Regierung Auskünfte zu den Hintergründen der Sabotageakte mit Verweis auf die sogenannte „Third-Party-Rule“ verweigerte. Informationen, die man von befreundeten Nachrichtendiensten erhalten habe, seien so vertraulich und sensibel, daß ihr Bekanntwerden das deutsche Staatswohl gefährde, lautete die Begründung. 

Wie die Gasspeicher in Zukunft gefüllt werden sollen, bleibt offen

Für Holm erweckt die ganze Angelegenheit den Eindruck, als wolle die Regierung das Kapitel Nord Stream am liebsten für immer schließen. „Es scheint so, als hoffe man in der Ampel geradezu, daß sich das Thema Gaslieferungen über Nord Stream mit den Anschlägen von selbst erledigt hat“, sagte er der JF. Sollte sich jedoch herausstellen, daß über die Leitung B durchaus noch Gas geliefert werden könnte, werde das Thema die Bundesregierung spätestens nach dem Winter wieder einholen, prophezeite der AfD-Abgeordnete. „Und dann wird sich sehr schnell die Frage stellen: Nord Stream 1 reparieren oder die intakte Röhre von Nord Stream 2 aufmachen.“ Die heikle Frage, die in der derzeitigen Diskussion um die deutsche Gasversorgung auffallend wenig thematisiert wird, lautet: Wie sollen die Gasspeicher in Zukunft gefüllt werden? 

Als die Gaslieferungen über Nord Stream 1 Anfang September gänzlich gestoppt wurden, betrug der Füllstand der deutschen Gasspeicher 84 Prozent. Wenn sich die Gasreserven nun über den Winter durch den höheren Verbrauch wieder verringern und sich die Speicher leeren, ist völlig unklar, wie sie im Frühjahr wieder befüllt werden können. Denn die Nord-Stream-Pipelines stehen nicht mehr zur Verfügung oder sind von deutscher Seite unerwünscht, und für die Ersatzlösung Flüssiggas fehlen sowohl die Infrastruktur als auch ausreichende Lieferkontingente.