© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Die Glocke schweigt
Warum die Kirchenführer sich mit der Verweltlichung abgefunden haben
Konrad Adam

Von den zahlreichen Pilgerwegen, die im Mittelalter zum Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostella führten, lief einer der meistbegangenen durch die Auvergne, das Zentralmassiv im Herzen Frankreichs. Die Strecke über den Aubrac, einen Vulkanstumpf von mehr als 1.200 Metern Höhe, karg, unfruchtbar und arm an Wasser, galt als eine der gefährlichen Teilstrecken dieser langen und mühevollen Reise. Die nahezu baumlose Gegend bot im Sommer keinen Schatten, während in der kühlen Jahreszeit, zumal im Herbst dichte Nebel aufzogen, die jede Orientierung schwer machten. An solchen Tagen pflegte die Glocke der Kirche von Nasbinals, dem einzigen größeren Ort in dieser trostlosen Landschaft, bis in die Nacht hinein zu läuten, um den versprengten Pilgern das Ziel zu weisen.

Glocken erfüllten im Mittelalter viele und ganz verschiedene Zwecke. Sie riefen nicht nur zu den Gottesdiensten, die in jeder der zahlreichen Kirchen sowohl sonntags als auch unter der Woche regelmäßig gefeiert wurden, oft mehrmals täglich. Sie verkündeten und luden ein, warnten und unterrichteten die Bürger über alles Mögliche: es gab die Sturmglocke, die Feuerglocke und das Arme-Sünder-Glöcklein, das geläutet wurde, wenn der zum Tode Verurteilte seinen letzten Gang antrat. Hinzu kamen die vielen Kirchturmsuhren, die halb- oder viertelstündlich die Zeit ansagten und so „des Lebens wechselvolles Spiel“, wie es bei Schiller heißt, mit ihrer ewigen Musik begleiteten.

Heute sind die meisten Glocken verstummt; wenn überhaupt noch, dürfen sie nur tagsüber geläutet werden, und auch dann nur zu festgesetzten Zeiten. Der Straßenverkehr, die Luftfahrt, der Dudelfunk und andere Errungenschaften haben den Lärmpegel so hoch getrieben, daß er anderswo wieder gesenkt werden muß, und deshalb unterliegen auch die Glocken dem Emissionsschutzgesetz. Ihr Beitrag zur öffentlichen Ordnung wird in Dezibel gemessen, und da bleibt nicht viel. Um aufzumerken, mitzuteilen und zu warnen, werden sie nicht mehr gebraucht, als Zeitansage schon gar nicht, da jedermann seine Armbanduhr, sein Handy oder ein Smartphone mit sich führt. Ähnlich wie die Kirchen selbst, deren tönende Botschafter sie einmal waren, sind die Glocken Opfer des Fortschritts geworden.

Der Ruf des Muezzin, der die Gläubigen zum Gebet auffordert, aber nicht. Ihn zuzulassen, ja zu fördern, gilt umgekehrt sogar als fortschrittlich, zumindest in Köln. Im Unterschied zum Glockengeläut, das dies und das bedeuten konnte, enthält der Gebetsruf ein Programm: das Bekenntnis, daß es nur einen Gott gibt, nämlich Allah, und daß Mohammed sein einziger Prophet sei – eine Ansage, die von den Gläubigen dann mit dem Ruf „Allahu Akbar“ beantwortet wird, jener Floskel, die strenggläubige Muslime auch dann im Munde führen, wenn sie zum Messer greifen, um Ungläubigen die Kehle abzuschneiden. Genauso, wie es der Koran, die Heilige Schrift, von ihnen verlangt.

Ähnlich wie Judentum und Christentum nennt sich der Islam eine Schriftreligion. Was es damit auf sich hat, läßt sich der Erzählung des Kirchenvaters Augustin entnehmen, der einer Kinderstimme folgte, die ihm „Tolle, lege“ – Nimm und lies! – zugerufen hatte. Er nahm und las, die Bibel allerdings, nicht den Koran. Hätte er zum Koran gegriffen, hätte er vor allem eines gefunden: den ständig wiederholten Befehl zu strikter, unbedingter Folgsamkeit. Allah läßt keine Bedenken und kein Zögern gelten, kennt keine Einwände und keinen Widerspruch, auch da nicht, wo er verlangt, den Ungläubigen die Haut vom Leib zu ziehen. Wer dennoch aufmuckt, muß damit rechnen, niedergestochen zu werden, so wie es Salman Rushdie, dem Autor der „Satanischen Verse“, jüngst widerfahren ist. Warum eine Religion, die auf Befehl und Gehorsam setzt und auf sonst nichts, in Deutschland, ausgerechnet in Deutschland als Bereicherung betrachtet werden soll, hat bislang noch niemand erklären können.

Die christlich genannten Kirchen können das auch nicht, wollen es ja nicht einmal. Man solle die Kirche im Dorf und die Moschee in der Stadt lassen, meinte ihr zuständiger Vertreter in jener Stadt, die früher einmal „dat hillie Köllen“ hieß. Wobei er freilich übersah, daß die Kirche auch am Sonntag leer ist, während die Moschee nicht nur am Freitag voll ist. Revolutionäre wie Cromwell oder Napoleon hatten die damals schon leeren Kirchen gern als Pferdeställe benutzt, heute dienen sie, sofern sie groß und alt und prächtig genug aussehen, als Touristen-Attraktionen. Und machen damit  wahr, was der Pfarrerssohn Nietzsche vorausgesagt hatte, als er die Kirchen Mausoleen Gottes nannte.

Um ihr Mißgeschick zu erklären, hat sich unter den Kirchenführern das Wort Säkularisation eingebürgert. Was ihnen aber nicht viel hilft, da sie am allgegenwärtigen Weltentzauberungsprozeß ja nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter kräftig beteiligt sind. Sie verwechseln staatstragendes mit regierungsfrommem Verhalten und bevölkern gemeinsam mit den Lobbyisten des öffentlichen Lebens, mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Selbständigen und Unselbständigen die Ethik- und die Rundfunkräte, besonders gern in führender Position. Für die ihnen zugedachte Aufgabe: den Menschen beizustehen in den Wechselfällen des Lebens, bleibt da nur wenig Zeit. Auf die naive, aber unausweichliche Frage, die immer dann laut wird, wenn sich etwas Unfaßbares ereignet hat, auf die Frage nach dem Warum wissen auch sie keine Antwort, weshalb der psychologisch geschulte Betreuer den Priester längst ersetzt hat.

„Vivos voco, mortuos plango“ – Ich rufe die Lebenden, ich betraure die Toten – hatte Schiller als Motto seinem Lebenslied auf die Glocke vorangestellt. Dann aber, an dritter Stelle, läßt er das stolze „Fulgura frango“ folgen – Ich zerbreche die Blitze. Das war der Glaube, der Berge versetzt, von dem die Kirche in ihrer heutigen Gestalt aber nur noch träumen kann. Sie hat sich in einen Verwaltungsapparat verwandelt, der oben ausbaut, was er unten, an der Basis, in den Gemeinden einspart. Als auf der Glocke von Herxheim, einem pfälzischen Dorf, ein Hakenkreuz entdeckt worden war, wurde sie umgehend still gestellt, zum Schweigen gebracht. Daß ihr Klang eine Botschaft verbreiten könnte, die unabhängig ist von dem, was ihr die Machthaber aufgeprägt hatten, dieser Gedanke lag der Kirche fern. Sie traut sich nichts mehr zu, die Menschen deshalb auch nicht.