© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Zerfallsprozeß eines Gemeinwesens
Attacken auf Kunstwerke: Selbstproduzierte Widersprüche überfordern die Klima-Extremisten der „Letzten Generation“
Thorsten Hinz

Es liegt in der Natur der Sache, daß die sogenannten Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ sich nicht mehr damit begnügen, Bilderrahmen zu beschädigen. Die Zeit ist schnellebig, die Halbwertzeit der Überraschungseffekte wird immer kürzer, die Aktionen brauchen eine Steigerung. Die Aggression richtet sich daher zunehmend direkt gegen die Gemälde. In Florenz traf es einen Botticelli, in London van Goghs „Sonnenblumen“, in Potsdam ein Bild von Claude Monet, in Den Haag Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“. Zum Einsatz kamen Kartoffelbrei, Tomatensuppe und Sekundenkleber. Vergangenen Sonntag wurde in der Alten Nationalgalerie in Berlin das Gemälde „Clown“ von Henri de Toulouse-Lautrec und die Wandbespannung mit einer Flüssigkeit beworfen. 

Der Sachschaden ist stets beträchtlich, aber wenigstens sind die bisher attackierten Gemälde durch Plexiglas geschützt gewesen. Allerdings ist nicht jedes Museumsbild verglast. Und ob mit oder ohne Glas – der nächste innerhalb der Eskalationslogik denkbare Schritt wäre die Zerstörung der Leinwände. Die Museumsschätze sind nur sicher, solange die Menschen ihnen Respekt zollen und ihre Unantastbarkeit garantieren.

Zu den Akteuren zählen Apokalyptiker, Idealisten, Karrieristen, Spinner, Fanatiker und Leute, die verpfuschten Biographien einen höheren Sinn geben wollen. Alle schwimmen auf der Panikwelle, erzeugt von einem Psychokrieg, der sich abwechselnd die Klimaerwärmung und die Covid-Saison als Thema wählt.

Der propagandistische Dauerbeschuß führt zu irrationalen Reaktionen. „Wenn Menschen in Bolivien nicht mehr am Klimawandel sterben müssen, dann scheiße ich dafür auf jedes einzelne Bild in einem deutschen Museum.“ Das sagte kein 16jähriger Halbstarker, sondern ein dreimal so alter Doktor der Politikwissenschaft, der bis 2021 als Referent für Klimagerechtigkeit und internationale Politik bei einer Parteistiftung beschäftigt war, deren Finanzierung aus Steuergeld übrigens außer Frage steht.

Eine an keine Norm gebundene Kampftruppe 

Die Reaktionen aus Politik und Medien auf die Übergriffe fallen lau aus. Die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth meinte, „Attacken auf Kunstwerke (sind) aus meiner Sicht keinesfalls Aktionsformen, die hier etwas bewirken, ganz im Gegenteil“. Falls sie aber – aus der Sicht von Frau Roth – „etwas bewirken“ würden, wären sie dann gerechtfertigt? Im rot-rot-grün regierten Berlin sperrte die Polizei für die Autobahn-Blockierer der „Letzten Generation“ sogar eine Straße ab, um „für die Autofahrer (zu) signalisieren, daß hier ein Polizeieinsatz stattfindet“. Der Staat identifizierte sich also mit der Aktion.

Es ist daher keine Anarchie, die hier stattfindet, sondern eine geduldete und kontrollierte Außergesetzlichkeit. Daß der Staat auch anders kann, zeigt sich im brutalen Vorgehen gegen Demonstranten, die gegen die Corona-Willkür protestieren. Die „Letzte Generation“ hingegen wird als nützlich erachtet. Ihre Aktionen unterstützen die vernunftwidrige „Energiewende“ und absorbieren zugleich Protestenergien, die sich andernfalls gegen die EZB-Politik, den unterlassenen Grenzschutz oder gegen die Rußland-Sanktionen richten könnten. Die Kräfte, die den Staat in Besitz genommen haben, dulden eine an keine Norm gebundene Kampftruppe, die ihrerseits rechtstreue Mitbürger terrorisiert. So ein Fall tritt gewöhnlich ein, wenn ein Gemeinwesen sich im Zerfall befindet oder ein mehrheitlich abgelehnter Ausnahmezustand als neue Realität etabliert werden soll.

Alternative Energien beenden die Landschaftszerstörung nicht 

Die Attacken auf die Werke der europäischen Malerei knüpfen – sei es bewußt oder unbewußt – an den Ikonoklasmus, den Denkmal-Sturm im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung an. Sie richten sich gegen eine „weiße“ Kunst, darüber hinaus aber auch auf die Kunst als Prinzip.

Die Kunstrealität ermöglicht dem Betrachter eine Weise der Wirklichkeitserfahrung, die über die reale Wirklichkeit hinausgeht. Sie verschafft ihm eine Distanz, aus der er die Welt und sein Selbst anders und besser verstehen lernt. Darin ist der „Letzten Generation“ ja zuzustimmen, daß es mit der Verschmutzung und Vernutzung der Natur nicht weitergehen kann. Die Landschaftsbilder von Monet oder van Gogh mahnen den reflektierenden Betrachter jedoch auch, daß der Einsatz alternativer Energien die Landschaftszerstörung überhaupt nicht beendet. Um Platz für Windräder zu schaffen, werden uralte Wälder abgeholzt, wird die Natur weiter verplant, parzelliert, durchrationalisiert. Die Windparks vor den Küsten beschränken den Horizont und nehmen dem Betrachter das Gefühl der Grenzenlosigkeit. Max Webers „stahlhartes Gehäuse“, das der Kapitalismus um die Menschen legt, wird noch ein bißchen undurchdringlicher. Weil die selbstproduzierten Widersprüche sie überfordern und sie nicht mit ihnen konfrontiert werden wollen, empfinden die sogenannten Klimaretter die Kunst folgerichtig als feindlich.

Lange Zeit war es stillschweigender Konsens, daß große Kunstwerke einer höheren Ordnung angehören. Wer keinen Zugang zu ihnen fand, der schwieg eben. In der Massendemokratie darf jeder sich zuständig fühlen. Vor 90 Jahren konstatierte der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers, daß das Massenzeitalter in der Gefahr eines „existentiellen Plebejertums“ stehe. „Die Instinkte des Massenmenschen vereinigen sich, wie schon öfters, gefährlicher als je, mit religionskirchlichen und politisch absolutistischen Instinkten, um die universale Nivellierung in der Massenordnung mit einer Weihe zu versehen.“ Ist dieser Prozeß erst vollendet, kann es nur noch darum gehen, die Kunstwerke vor den Nivellierungsinstinkten zu retten.