© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Folge niedriger Qualitätsstandards auf der Documenta
Agitprop statt Kunst
(wm)

Für Cristina Nord, die seit 2019 das Berlinale Forum leitet, hat der „Antisemitismus-Skandal“ auf der diesjährigen Documenta eine wesentliche Schwäche dieser Kunstschau verdeckt: den Mangel an Komplexität. Vor zwanzig Jahren sei man hier schon weiter gewesen. Damals stellte der Kurator Okwui Enwezor mit größter Selbstverständlichkeit an alle eingeladenen Künstler, gleich ob sie aus Ländern des globalen Nordens oder Südens kamen, den Anspruch, „komplex zu arbeiten“. Von solchen ehrgeizigen Ambitionen hätten Enwezors Nachfolger sich nach und nach verabschiedet, bis dann 2022 mit Konsequenz die plumpe, anti-israelische und antisemitische Schwarzweißmalerei der Agitprop-Kunst des indonesischen Kollektivs Taring Padi in der Kasseler Ausstellung gezeigt werden durfte. Kritiker hätten daher zu Recht vorgebracht, daß sowohl die Juden verletzenden als auch die bäuerlich-vormoderne, heterosexuelle Lebensweisen verklärenden Szenen des Wimmelbildes „People’s Justice“ vom „Zusammenbruch der analytischen Kategorien“ zeugten. Dazu käme es zuverlässig immer dann, wenn Problemlagen so komplex werden, daß man die begriffliche Arbeit verweigere und stattdessen nach künstlerisch „einfachen Lösungen und Darstellungsformen“ suche. Da nach der, wie Nord findet, „rassistisch eingefärbten“ medialen Skandalisierung des Taring Padi-Beitrags antisemitische Motive auch bei anderen Ausstellungobjekten identifiziert wurden, dürfte die „schöne Idee“ dieser Documenta, in den globalen Süden weisende Bilder einer Zukunft jenseits wissenschaftlich-technischer Vernunft zu vermitteln, dauerhaft diskreditiert sein (Merkur, 10/2022).