© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Im Widerlager des Imaginären
Noch eine Krise: Vom Niedergang literarischer Bildung im digitalen Zeitalter
Dirk Glaser

Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.“  Ein tiefes Wort Hegels. Beginnen doch alle kleinen und erst recht alle „Großen Transformationen“ der Weltgeschichte tatsächlich zuerst in den Köpfen der Menschen. Jede Zeitenwende setzt daher eine  Bewußtseinswende voraus. Etwa eine von der Art, die Europas Bildungsplaner und Hochschulpolitiker Ende der 1990er einleiteten, als sie fast gleichzeitig beschlossen, die nationalen Schulsysteme des Kontinents zu vereinheitlichen (PISA) und den  „Bologna-Prozeß“ in Gang zu setzen, eine transnationale Hochschulreform, die die akademische Ausbildung „harmonisieren“ sollte, indem sie das Gros der Studiengänge auf die Bedürfnisse globalisierter Arbeitsmärkte ausrichtete.

Die Folgen der damit initiierten, seit zwanzig Jahren sich vollziehenden Umwälzung des Reiches überkommener Vorstellungen, Traditionen und Werthaltungen laufen auf nicht weniger als den Kulturbruch eines „Abbaus des Menschlichen“ (Konrad Lorenz) hinaus, wie ihn der Osnabrücker Literaturdidaktiker Christian Dawidowski  am Beispiel der Germanistik in seinem zwar knappen, aber zeitdiagnostisch scharfsinnigen Rückblick auf die jüngste Entwicklung eines Faches illustriert, dessen Bedeutung unter dem Druck von PISA und Bologna fortwährend geschrumpft ist. 

Zweckfreie Lektüre aus Neugier ist aus der Mode gekommen

Dem angloamerikanischen Herkunftskontext gemäß haben, wie nicht wenige Kritiker behaupten, PISA und Bologna das Ziel, Bildung zugunsten sehr spezieller „Kompetenzen“ abzuschaffen, die zur ökonomisch nützlichen Lösungen eng begrenzter „Probleme“ qualifizieren. Für den Deutschunterricht in der Schule wie für das Lehramtsstudium hat das eine tiefgreifende Konsequenz. „Literarische Bildung“, seit Wilhelm von Humboldts neuhumanistischer Schul- und Universitätsreform über alle historischen Umbrüche hinweg seit 200 Jahren ein Medium der Persönlichkeitserziehung, ist nach Dawidowskis empirisch unterfüttertem Urteil heute weitgehend ersetzt durch anspruchslose, nicht zuletzt an die Schülerschaft mit „Migrationshintergrund“ adressierte  „Lesetechniken“, die Lektüre auf die „Entnahme jener Informationen“ reduzieren, „die den Anschluß an das reibungslose Funktionieren des kapitalistischen Systems“ ermöglichen. 

Für dieses „informatorische Lesen“ genügt die sprunghafte Durchsicht von Texten, die für den Rezipienten ausschließlich einen Gebrauchswert haben. Ein „vertieftes, existentielles, bildendes Lesen“, das dem Humboldtschen Ideal der literarisch gestützten Charaktererziehung, der weite Wissenshorizonte eröffnenden Ausbildung autonomer, aber gemeinschaftstauglicher Individualität gemäß wäre, ist hingegen im Deutschunterricht der Berliner Republik nicht weiter vorgesehen. Die Lektüre umfangreicher Texte aus dem Kanon von Walther von der Vogelweide bis Thomas Mann ist somit nicht erforderlich. Auch Goethes „Faust“ ist daher seit einiger Zeit verzichtbar. Zuletzt läutete diesem Stück deutscher Weltliteratur das Münchner Kultusministerium das Totenglöckchen: Vom Schuljahr 2024/25 an ist es nicht mehr „Pflichtlektüre“ an bayerischen Gymnasien.

Es ist kaum verwunderlich, wenn Dawidowski in diesem Kontext mit Zahlen belegen kann, daß „zweckfreie Lektüre“, Lesen aus Freude und Neugier, aus purer Lust, die Welt vom „Widerlager des Imaginären“ (Robert Musil) aus zu verstehen, inzwischen aus der Mode gekommen ist, da bei der erdrückenden Mehrzahl der Schüler und Lehramtsstudenten „pflichtbasiertes“ Lesen überwiegt. Es ist für sie ein Mittel zur Erreichung formaler „Abschlüsse“, die das Tor zum erwünschten Sozialstatus öffnen sollen. Umfragen zu solchen Bildungseinstellungen liefern darum überraschungsfreie Resultate. 60 Prozent der Schüler gelten als „pragmatisch leistungsorientiert“. Soll heißen, sie tun nur das Nötigste, um das zu erreichen, was verlangt wird. Der hohe Elterndruck steht dahinter, Lesen spielt in ihrem Leben sonst keine Rolle, es gibt kein persönliches Interesse weder an Deutsch noch an anderen Schulfächern. Lediglich eine innerlich motivierte Minderheit von zwölf Prozent, darunter stärker vertreten „Mädchen mit Migrationshintergrund“, stuft eine Studie als „bildungsbegeistert“ ein. 

Bei den in diesem System erzogenen Lehramtsstudenten steht es um die Motivation natürlich nicht besser. Auch darum, so argumentiert der Literaturwissenschaftler Markus Steinmayr (Duisburg-Essen), bewege sich das germanistische Studium immer weiter weg von fachwissenschaftlicher Grundlagenausbildung, um stattdessen „politischen und medialen Trends“ zu huldigen, die dort „fröhlich Urständ feiern: Postcolonial und Gender Studies“. Ein Fachstudium der deutschen Sprache und Literatur sei für die jetzige Studentengeneration künftiger Deutschlehrer offenbar „nicht mehr so attraktiv, weil es nicht auf die Marktgängigkeit der Absolventen zielt“ (FAZ vom 31. August 2022). Bildung ist darum, wie eine Allensbacher Studie schon 2011 ermittelte, auch für die meisten Eltern primär etwas, was „bessere berufliche Chancen“ und „Aufstiegsmöglichkeiten“ verspricht. Nur ein Siebtel der Befragten hielt Kenntnisse der deutschen Literatur, der Philosophie und Religion für einen „unbedingten Teil“ von Bildung, während 42 bis 60 Prozent (je nach sozialer Schichtung) darunter „arbeitsmarkttaugliche Computerkenntnis“ verstand.

Digitale Systeme ersetzen einen Großteil geschriebener Sprache

Die Digitalisierung aller Lebensbereiche, nach dem prähistorischen Übergang von der Oral- zur Schriftkultur und nach deren Ablösung durch den Buchdruck im 16. Jahrhundert, „der größte medienbezogene Umbruch der Menschheitsgeschichte“, kommt dem „informatorischen Lesen“ weit entgegen. Mittelfristig scheint die alte Kulturtechnik des Lesens für Dawidowski sogar überflüssig zu werden, weil bald niemand mehr Gedrucktes vor Augen hat. Den Großteil der geschriebenen Sprache dürften digitale Systeme ersetzen, Sprach- und Vorleseassistenten, Grafiken, Instruktionsvideos und Icons. Zum Recherchieren zumindest nicht allzu komplexer Sachverhalte würde dann überhaupt keine Schrift mehr benötigt. Die Jugend habe heute schon den größten Teil ihres Alltags ins Netz ausgelagert und die von ihr genutzten Medien, das Smartphone als dritte Hand, die tief im Ohr versenkten Kopfhörer, glichen Körperteilen.

Der durchschnittliche Hochschulabsolvent verbringt heute weniger als 5.000 Stunden mit Lesen, dafür 10.000 Stunden mit Videospielen, 20.000 Stunden vor dem Fernseher. Die Zeiten, als die Mahnung von Professoren noch Gehör fand, ein Tag ohne Lektüre sei für den Studenten der Germanistik ein verlorener Tag, liegen Lichtjahre zurück. 

Eine so massive Mediensozialisation verändere, wie Neurophysiologen nachgewiesen haben, nachhaltig unsere Gehirnstrukturen. Dawidowski verzichtet hier auf das Schlagwort von der „digitalen Demenz“ (Manfred Spitzer), beruft sich aber auf die 2019 veröffentlichte „Stavanger-Erklärung“ von 150 Leseforschern, die den Zusammenhang zwischen schlechten Schulleistungen, schwindender Lesefähigkeit und hohem Medienkonsum belegt. Ein solcher „politisch gesteuerter Wandel des Bildungssystems“ bedroht für ihn die Demokratie. Was er freilich nur andeutet, wenn er die von PISA und Bologna verursachte „Lesekrise“ in Beziehung setzt zur eskalierenden Krise der Realitätswahrnehmung und den dadurch induzierten Verfall  politischer Urteilskraft – in breiten Bevölkerungsschichten, wie gerade die Niedersachsen-Wahl bewiesen hat, ebenso wie bei den „Eliten“ der grandiosen Energiewende. 

Doch der mitunter so kulturpessimistisch klingende Autor endet versöhnlich: Eine hochgradig differenzierte Leistungsgesellschaft benötige nun einmal ein Schulsystem, das „Persönlichkeitsbildung“ nicht fördert. Denn weder bei der Lektüre von Goethes „Faust“ noch bei der Interpretation von Paul Celans „Todesfuge“ würden „Kompetenzen“ entwickelt, die in irgendeiner Weise Nützlichkeit in einer technifizierten Massengesellschaft beanspruchen könnten.

Christian Dawidowski: Literarische Bildung, Reclam Verlag, Dillingen 2022, broschiert, 133 Seiten, 6,80 Euro