© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

An der Schönhauser Allee klebt eine junge – laut ihrem Flyer „feministische“ – Frau, absurderweise gerüstet mit Corona-Maske, ihre Werbung als Beziehungs- und Sexualberaterin an die Fußgängerampel. Da nur ihr geheimnisvolles Augenspiel zu sehen ist, drehe ich mich, nachdem ich den Zettel überflogen habe, noch einmal in die Richtung um, in die sie entschwunden ist – und sehe, wie sie mich tatsächlich hinter einem Mauervorsprung neugierig mit ihrem Blick fixiert. Eine Szene, wie aus einem Musikvideo der 1980er Jahre. Ich löse mich dennoch, da ich ohnehin lernen muß, mehr „loszulassen“, und laufe über die Kreuzung, wo mir ein junges Paar entgegenkommt. Der Mann zu seiner Begleiterin, augenscheinlich noch erfüllt von der Erscheinung, berichtet außer Atem: „Ich bin eben gerade dem Chef des Zentrums für Politische Schönheit begegnet.“

Dialogfetzen des jungen Paares – sie: „You are racist!“ Er beschwichtigend:

„I know, I am.“

Kunst kommt natürlich von Können. Als ich später durch die Senefelder Straße schlendere, kann ich mir vorstellen, wie einfach eine mediale Kunst-Installation herzustellen wäre, würden einfach alle an einer bestimmten Stelle geäußerten Dialogfetzen der Passanten hintereinander geschnitten, etwa die des jungen Paares – sie: „You are racist!“ Er beschwichtigend: „I know, I am.“ Doch es ist nur eine Momentaufnahme. Tatsächlich ängstigt mich die Wirklichkeit. Mit jedem Schritt, den ich vor die Tür setze, beschleicht mich immer mehr das Gefühl eines heraufziehenden Totalitarismus, wofür vor allem die freiwilligen Maskenträger in der Öffentlichkeit sorgen. Obwohl, in Teilen Asiens wäre das gar nicht so anormal. Dementsprechend erschiene die Maskenpflicht in Deutschland eigentlich als ein Akt kultureller Aneignung. Zweifellos gilt dieses Verdikt für den – diesmal pink gefärbten – Irokesen-Schnitt von Sascha Lobo, den ich am Sonntagnachmittag vor dem Café um die Ecke sitzen sehe. Offenbar ist er auf der (Gender-)Hut, der neuen Form von Geßlergruß. Schließlich kommt auch Kim de l’horizon nicht ungeschor’n davon. Doch was ist dieser Gratismut schon gegen die Realität einer islamischen Diktatur im Iran, ganz zu schweigen von der unvorstellbaren Brutalität des Krieges in der Ukraine? 


Der polnische Handwerker, der mir bereits im Februar den Krieg in der Ukraine exakt zwei Wochen zuvor prophezeit hatte, ist sich auch diesmal sicher: Putin sei so krank im Kopf, wie er mir gegenüber gestikuliert, daß der mindestens die „schmutzige“, wenn nicht gar die Atombombe werfen werde. Tatsächlich spielt der Krieg vor der Haustür. Aufklärung verspricht das Ukrainische Filmfestival (www.uffberlin.de), das unter der Losung „Defeating the darkness“ steht. Im seit Jahren geschlossenen Kino Colosseum laufen die Streifen „Butterfly Vision“ (von Maksym Nakonechnyi) und „Klondike“ (von Maryna Er Gorbach), die wie eine Metapher wirken angesichts der annoncierten Neugeburt einer Nation. Ihre Protagonistinnen sind ebenso starke wie eigensinnige Frauen, die wahre Kriegskinder auf die Welt bringen, etwa die Drohnenpilotin aus „Butterfly Vision“, die in der Gefangenschaft vergewaltigt und geschwängert worden war. Trost-Los.