© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Dreiunddreißig Tage
Kino: Der Spielfilm „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ erzählt minutiös den Entführungsfall des Hamburger Mäzens Reemtsma aus dem Jahr 1996 nach
Dietmar Mehrens

Johann, wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen.“ Es sind sorgsam gewählte Worte, mit denen Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) ihrem Sohn Johann (Claude Heinrich) beizubringen versucht, daß sein Vater, ihr Mann Jan Philipp Reemtsma, entführt worden ist. Sie hat am Hauseingang ein Bekennerschreiben gefunden. Die Entführer verlangen 20 Millionen Mark für die Freilassung des vermögenden Hamburger Großbürgers. Die Polizei wird eingeschaltet. Doch schon bald ist sich Johanns Mutter nicht mehr sicher, ob das so eine gute Idee war. Denn noch am selben Vormittag verwandeln sich ihre Gemächer in ein hochtechnisiertes Einsatzzentrum der sogleich gebildeten Soko von Polizeikommissar Rainer Osthoff (Fabian Hinrichs).

Zwei „Angehörigenbetreuer“ kümmern sich rührend um Johann und seine Mutter. Die zieht trotzdem lieber den Familienanwalt Schwenn (Justus von Dohnányi) hinzu. Zwischen Familie, Entführern und Polizei entbrennt ein zermürbender Nervenkrieg, der über einen Monat dauern wird. Ann Kathrin setzt durch, daß Schwenn das Geld übergibt. Doch als es endlich losgeht, braucht die Polizei zu lange für die technische Aufrüstung des Fahrzeugs, mit dem es zur Geldübergabe gehen soll. Die Entführer macht die Verzögerung mißtrauisch. Sie tauchen nicht auf.

Im Zentrum steht der 13jährige Sohn des Entführten

Hans-Christian Schmid ist ein Regisseur der leisen Töne und der subtilen Figurenzeichnung. Die Präzision seiner Regiearbeiten ist an kleinen Details abzulesen: Zu Ostern, eine Woche nach der Entführung, läuft im Haus der Angehörigen ein Fernseher mit Nachrichten. Es ist von der Kirche die Rede und vom Glauben, der Menschen befähige, Schwierigkeiten zu bewältigen, vor denen sie sonst kapitulierten. Ann Kathrin sieht einer solchen Kapitulation entgegen.

Schon in seinem ungewöhnlichen Jugenddrama „23“ (1998) sowie der Verfilmung des Skandalbuchs „Crazy“ von Benjamin Lebert zwei Jahre später bewies Schmid ein sicheres Gespür für die psychologisch exakte Beschreibung jugendlicher Befindlichkeiten. Das ist in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ nicht anders. Der gebürtige Alt-öttinger rückt den 13jährigen Johann ins Zentrum des Geschehens. Ihm gehören die ersten Szenen des Films, die den ganz normalen Alltag eines Heranwachsenden schildern. Das nervige Latein-Pauken für eine anstehende Klassenarbeit, die Proben mit der eigenen Schülerband, der Rückzug von der erdrückenden Erwachsenenwelt in die eigenen vier Wände, wo er mal schnell „Lautlos im Weltall“ (1972) in den Videorecorder einlegen und so dem Druck entfliehen kann: kurze, symptomatische Szenen charakterisieren Johanns Welt.

Angehörige und Polizei haben unterschiedliche Interessen

Der aus der dritten Staffel der deutschen Netflix-Produktion „Dark“ sowie als jugendlicher Udo aus „Lindenberg – Mach dein Ding“ (JF 4/20) bekannte Claude Heinrich bringt die von Schulstreß und Selbstfindungspein bereits vor dem eigentlichen Drama ins Wanken gebrachte seelische Balance des jungen Johann sehr authentisch auf die Leinwand. Durch die Schreckensnachricht von der tödlichen Bedrohung für seinen Vater beginnt für den 13jährigen ein innerer Spießrutenlauf, an dem Heinrich seine Zuschauer vornehmlich durch Gesten und Mimik, jedoch nur selten durch zum Ausbruch kommende Emotionen teilhaben läßt.

Johann Scheerer, der Autor des gleichnamigen, auf persönlichen Erinnerungen basierenden Buches, das 2018 beim Piper-Verlag erschien, zeigte sich im Interview beeindruckt vom Spiel des inzwischen 16jährigen Nachwuchstalents: „Diese Sprachlosigkeit zu zeigen und das Publikum spüren zu lassen bekommt Claude eben mit wenigen Gesten und Gesichtsausdrücken hin.“

Dem Autor lagen zum Zeitpunkt des ersten Treffens mit Regisseur Hans-Christian Schmid bereits etliche Angebote für eine Verfilmung vor. Doch erst Schmid, dessen Filmen er eine beeindruckende „emotionale Präzision“ bescheinigt, konnte ihn mit seinem Konzept einer Fokussierung auf die Angehörigen und einer weitestgehenden Ausblendung der Krimi-Elemente des Entführungsfalls überzeugen. Der Reemtsma-Sproß schleppt die traumatischen Erinnerungen an das Verbrechen seit den dramatischen Vorfällen von 1996 mit sich herum. „Die Entführung meines Vaters“, sagt er im Interview, „hat im deutschsprachigen Raum große Wellen geschlagen. Die Presse berichtet im Grunde bis zum heutigen Tag darüber, und sobald Menschen davon hören, sieht man förmlich die Assoziationsblasen über ihren Köpfen aufgehen; die haben dann immer mit Vorstellungen von viel Geld oder irgendeinem besonders spektakulären Verbrechen zu tun, und sobald es diesen Moment gibt, erschwert es eine zwischenmenschliche Unterhaltung ungemein. Ich trage nun einen anderen Nachnamen als mein Vater, aber durch das Internet ist seit Jahren, fast seit Jahrzehnten da gar keine wirkliche Trennung mehr möglich.“ 

Hans-Christian Schmid macht außer den Familienangehörigen des Entführungsopfers auch noch andere zu Protagonisten: Polizisten. Das zusammen mit Michael Gutmann entwickelte Drehbuch betont einen Aspekt, der in der Buchvorlage unterrepräsentiert ist: den „unauflösbaren Widerspruch“, wie Schmid es nennt, „zwischen den Interessen der Angehörigen und denen der Polizei. Johann und seine Mutter wollten unbedingt, daß bereits die erste Geldübergabe klappt. Die Polizei will das auch, doch sie hat auch einen Ermittlungsauftrag und sieht in den Übergaben ihre einzige Chance, den Tätern nahe zu kommen. Es wird also observiert, was wiederum die Übergaben gefährdet. Dieser Widerspruch wurde insbesondere für Ann Kathrin Scheerer zu einer unerträglichen Belastung“, erläutert der Regisseur, dem eine besonders eindringliche filmische Rekonstruktion der Ereignisse rund um das Verbrechen gelungen ist.

Zwar wurden für das Drehbuch auch mit den damals zuständigen Beamten Gespräche geführt; dennoch ist dem Film ein gewisses Mißtrauen gegenüber den Staatsdienern abzuspüren. Das könnte einerseits an dem linken Milieu liegen, dem die Familie Reemtsma traditionell zugetan ist (kurz kommen im Film Jan Philipp Reemtsmas Verbindungen zur Hamburger Hausbesetzerszene vor); andererseits öffnet sich aber auch die Tür für eine ganz neue, brandaktuelle Lesart des unter Covid-Hygieneschikanen entstandenen Films: die einer staatlichen Exekutivgewalt, die übergriffig, selbstherrlich und borniert-paternalistisch auftritt.

Kinostart ist am 3. November 2022

 https://wir-sind-dann-wohl-die-angehoerigen.film/