© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Entsorgung in der Ferne
Wie die DDR und die Türkei Opfer des westdeutschen „Müllkolonialismus“ wurden
Christoph Keller

Das Jahr 1972 war ereignisreich: Die Nasa-Sonde „Mariner 9“ funkte Bilder vom Mars, die Air Force nahm das Flächenbombardement Vietnams wieder auf, Richard Nixon näherte sich Rotchina an, RAF und Palästinenser terrorisierten den Westen, die Norweger lehnten den EWG-Beitritt ab, die SPD wurde stärkste Partei und Willy Brandt erneut Bundeskanzler. Gleichzeitig mit dem deutsch-deutschen Transitabkommen trat das Abfallbeseitigungsgesetz in Kraft. Ein auf den ersten Blick nicht erinnerungswürdiges Faktum, weil es nach bürokratischer Materie klingt. Schaut man genauer hin, ist unübersehbar, daß dieses erste große deutsche Umweltgesetz eine ökologische Zeitenwende einläutete. Reagierte es doch auf eine Kardinalfrage westlicher Industrienationen: Wohin mit dem sich zu Gebirgen türmenden Müll der Konsumgesellschaft?

Bis dahin, was heute unvorstellbar ist, gab es zwischen Flensburg und Garmisch keine leistungsfähige Entsorgungsinfrastruktur. Nach nur groben landesgesetzlichen Vorgaben regelte jede Stadt und jeder Kreis seine Abfallwirtschaft in eigener Regie. In Form zumeist „wilder Entsorgung“ selbst von Schadstoffen und Giften Richtung Müllkippen und Deponien, die ungesichert mitten in der Landschaft lagen. Allein in Baden-Württemberg gab es 1972 noch 3.374 solcher „wilden Müllkippen“. Das Abfallbeseitigungsgesetz machte mit diesen skandalösen Zuständen im Laufe weniger Jahre Schluß, indem es die Müllentsorgung zentralisierte.

Abfallbeseitigung hielt mit der Wegwerfgesellschaft nicht Schritt

Die Umstellung kam langsam, aber stetig voran. So waren in Nordrhein-Westfalen 1975 zehn größere Müllverbrennungsanlagen (MVA) in Betrieb, in Hessen nur vier, in Baden-Württemberg, dessen Abfallbeseitigungsplan von 1972 den Bau von 51 MVA vorsah, gar erst kümmerliche zwei, weil die „protestfreudige“ Bevölkerung im Ländle gegen viele ausgewählte Standorte mobil machte. Trotzdem galt die Konzentration auf relativ wenige Anlagen als umweltpolitischer Meilenstein, bis sich zeigte, daß deren Kapazitäten mit der keine „Grenzen des Wachstums“ respektierenden Abfallproduktion der Industrie und der Wegwerfgesellschaft nicht Schritt hielten, was Mitte der 1980er Jahre zum bundesweiten „Müllnotstand“ führte.

Um den zu beheben, hatten einige Bundesländer, darunter Baden-Württemberg, begonnen, ihren Sondermüll in andere Bundesländer zu schaffen, da auch mit den neuen Anlagen die schädlichen Wirkungen der Entsorgung weder örtlich noch technisch einzugrenzen waren. Rheinland-Pfalz nahm den schwäbischen Sondermüll sogar gerne an, um die Rentabilität ihrer bestehenden MVA zu verbessern. Doch solche Improvisationen brachten keine Entspannung der Lage. 1986 sah sich erstmals ein grüner Umweltminister, Joschka Fischer in Hessen, mit dieser Kalamität konfrontiert und reagierte auf die verzwickte Situation mit der ihm eignen vornehmen Zurückhaltung per taz-Botschaft: „Gruß von mittendrin in der Scheiße“.

Gegen heftige Proteste im eigenen Landesverband und von schleswig-holsteinischen Parteifreunde fand der „Realo“ Fischer schließlich den findigen Ausweg, giftigen hessischen Sondermüll auf einer DDR-Deponie im westmecklenburgischen Schönberg abzuladen. Der klamme SED-Staat gierte nach Devisen – unbekümmert um die zu erwartenden umweltschädlichen, Trinkwasser und Luft gefährdenden Auswirkungen der Deponie innerhalb der DDR und im nahen Lübeck. Dort verlangten die von der hessischen „Fundamentalistin“ Jutta von Ditfurth unterstützten holsteinischen Grünen vergeblich von Fischer, „die lawinenartige Zunahme der Industriemülltransporte“ sofort zu unterbinden.

Fischer erklärte daraufhin seine Ratlosigkeit, wich aber nicht von der Exportpraxis ab: „Auch ich will den Stopp für den Mülltourismus“, nur fehle ihm ein Beschluß, „der mir sagt, was ich stattdessen machen soll“. Erst im Zuge der Wende und Wiedervereinigung 1989/90 tat sich etwas: Die Deponie hieß nun Ihlenberg und die schlimmsten Umweltsünden wurden mit dreistelligem Millionen allmählich beseitigt. Dabei tat sich schon Jahre zuvor eine neue Alternative auf, um den „Kollaps des Müllsystems“ zu verhindern. Doch diese erwies sich, wie in der Studie des Umwelthistorikers Jonas Stuck (München) über den „deutschen Müllkolonialismus in der Türkei“ nun nachzulesen ist, ebenfalls als Sackgasse (WerkstattGeschichte, 85/22).

Dabei traten gut vernetzte Müllhändler und Abfallspediteure mit der Idee auf den Plan, den Sondermüll verstärkt aus dem inländischen Entsorgungssystem in den globalen Süden auszulagern. Zum ersten Mal berichtete die deutsche Presse im Februar 1988 von der Realisierung dieser geschäftstüchtigen Idee. Nachdem die Verbrennung von hochgiftigem Sondermüll, 1.600 Tonnen Farb- und Lackrückstände, vom Landrat in Göppingen nicht genehmigt worden war, exportierte eine im Kreis tätige Spezialfirma den gefährlichen Abfall – deklariert als „Ersatzbrennstoff“ – nach Isparta im südwesttürkischen Taurusgebirge.

Im einst griechischen Bischofssitz Báris hatte sich eine Zementfabrik, die weder über Filter noch über Rauchgasreinigungsanlagen verfügte, als begeisterter Abnehmer gefunden. Die zahlte für eine Tonne heimische Steinkohle 100 D-Mark, während die Deutschen für ihren „Ersatzbrennstoff“ nur zehn D-Mark verlangten – bei gleichem Brennwert. Für beide Seiten bahnte sich eine einträgliche Geschäftsbeziehung an, da der ersten Lieferung noch 50.000 weitere Tonnen Sondermüll aus dem Kreis Göppingen folgen sollten. Auch ein oberschwäbisches Verwertungsunternehmen nahm sich daran ein Beispiel und beantragte beim Landratsamt Ravensburg den Export von 1.000 Tonnen halogenhaltigem Flüssigmüll, der bei der Metalloberflächenbehandlung in der Autoindustrie angefallen war.

Risikotransfer zu Lasten von Umwelt und Gesundheit

Weitere Entsorgungsfirmen standen in den Startlöchern. Ausgehend vom Göppinger Fall, für dessen Skandalisierung der grüne Landtagsabgeordnete Andreas Graf von Bernstorff und der grüne Europaparlamentarier Wolfgang von Nostitz die Trommel gerührt hatten, zog der von ihnen angeprangerte „Müllkolonialismus“ im Frühjahr 1988 immer größere Kreise. Bernstorffs geschickte Kampagnenstrategie, die auch türkische Politiker, Wissenschaftler und Journalisten einbezog, bewirkte schließlich einen Exportstopp für die halogenierten Lösungsmittel und eine Rückholung der „Ersatzbrennstoffe“ aus Isparta.

Politisch konnten von Nostitz und Graf Bernstoff, der sich später bei Greenpeace als Experte für Giftmüll-Rückholaktionen profilierte, mit ihrer Intervention mehr als zufrieden sein: Baden-Württemberg erweiterte 1989 seine Entsorgungskapazitäten für Sondermüll auf 100.000 Tonnen. Im gleichen Jahr mündete der nationale wie internationale Widerstand gegen Müllexporte in die Verabschiedung der Basler Konvention. Sie trat im Mai 1992 in Kraft und verbot die grenzüberschreitende Verbringung gefährlicher Abfallstoffe.

Ende gut, alles gut? Für Jonas Stuck nicht. Dem gezielten Risikotransfer aus reichen Staaten zu Lasten von Umwelt und Gesundheit in ärmeren Weltregionen sei damit kein Riegel vorgeschoben worden. Die Konvention öffne zu viele Schlupflöcher. So lassen sich Altautos, abgelaufene Pestizidfässer oder Elektroschrott zur „recycelbaren Ware“ deklarieren, um sie weiterhin ungehindert in die Ferne exportieren zu können.

Themenheft „Müll“ (Werkstatt Geschichte, 85/22):  

werkstattgeschichte.de

stoppt-deponie-schoenberg.de