© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Erster Schrei in familiärer Umgebung
Protokoll einer Niederkunft: Unser Autor mit einem Plädoyer für die Hausgeburt
Paul Meilitz

Meine Tochter T. und ihr Ehemann haben ihr zweites Kind bekommen. Ein Sohnemann ist bereits da, erfreut sich bester Gesundheit und macht inzwischen im Natur-Kindergarten einer norddeutschen Stadt eine gute Figur. Er weist einige Besonderheiten auf, die mir Respekt abnötigen. 

So hat er weder Nuckel noch Schnabelbecher und deren anschließende Entwöhnung durchleiden müssen. Die mehrfachen Versuche einer Kinderkrankenschwester in der Geburtsklinik, dem Neuankömmling einen Schnuller in den Mund zu pfropfen, hatte die Mutter im Keim erstickt. Dafür wurde er bis über das zweite Lebensjahr hinaus mit dem besten Nahrungsmittel für diese Altersgruppe versorgt: Muttermilch.

Die Männer bereiten das Frühstück vor

Kaum waren die Finger zu halbwegs koordinierter Motorik fähig, führte der kleine Mann beidhändig ein herkömmliches Trinkgefäß an den Mund, um das stille Mineralwasser wie ein Erwachsener zu schlürfen, wobei anfänglich massive Abtropfverluste geduldig hinzunehmen waren. Derlei und andere Überlegungen ließen in den Eltern den Wunsch reifen, das zweite Kind als Hausgeburt, sprich frei von unerwünschten Reglementierungen zur Welt zu bringen. 

Der Widerstand gegen diese Entscheidung formierte sich erwartungsgemäß und erstreckte sich über zwei Generationen Anverwandter und schloß meine andere Tochter ein, die als Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin nicht nur medizinische Kompetenz, sondern zwei wohlgeratene und in Kreißsälen zur Welt gekommene Kinder in die Waagschale warf. 

Obwohl sich besagte Schwester als vehemente Gegnerin der Covid-Impferei öffentlich exponierte, ihre Karriere in Gefahr brachte und damit dem nonkonformen Teil der Ärzteschaft zuzurechnen ist, stand sie einer Hausgeburt mit einer gewissen Portion Skepsis gegenüber. Die Schulmedizin läßt grüßen. Dazu muß man auch wissen, daß die andere gebärende Tochter über ein recht zierliches Beckenmaß verfügt, das bei vorschneller medizinischer Beurteilung die Empfehlung „Kaiserschnitt“ regelrecht herausfordert. 

Doch Beckenmaß und diverse Ratschläge hin und her, meine Tochter entschied sich für eine Hausgeburt. Sie buchte eine Hebamme und klärte alle Konditionen mit ihrer Krankenkasse. Der künftige Vater machte sich inzwischen mit dem Notfallplan vertraut und inspizierte das hierfür bereitstehende Köfferchen. Selbst der dreieinhalbjährige „große“ Bruder war in die kommenden Geschehnisse soweit eingeweiht, daß seine persönliche Anwesenheit beim Eintreffen seiner Schwester nicht in Frage stand.

Fünf Tage vor dem errechneten Termin ging alles ganz schnell. Meine Tochter erwachte mit Wehen und griff zum Telefon. Alles weitere dokumentierte die Hebamme in einem Protokoll, das hier auszugsweise wiedergegeben werden soll:


06.30 Uhr Telefonat mit T. Ich möge kommen. Sie muß die Wehen schon veratmen und ist um 6 Uhr wach geworden.


07.40 Uhr Ankunft. T. sitzt auf einem Pezziball und lächelt mich an. 


07.50 Uhr In der Küche bereiten ihr Mann und der Sohn das Frühstück zu.


09.00 Uhr Blasensprung


09.08 Uhr Ich sehe das Baby.


09.19 Uhr Geburt im Vierfüßlerstand. Vital, schreit. T. nimmt ihr Baby zu sich. Der Ehemann hat den Bruder auf dem Schoß und schauen der Geburt zu.


10.20 Uhr Die „Männer“ gehen in die Küche, um Brot zu backen. Das Baby trinkt. Nachwehen erträglich. Das Mädchen erhält zwei Vornamen. Einer ist der von T.s liebster Oma.


10.45 Uhr U 1: Eutrophes, lebensfrisches, ruhiges, zufriedenes, weibliches Neugeborenes. Reflexe ohne Befund, Herz/Lunge askulatorisch. Windel an und wieder an die Brust.


11 Uhr Nachwehen aushaltbar. Papiere vervollständigt, Aufräumen, Zusammenpacken.

12.10 Uhr Abfahrt. Ich komme übermorgen wieder. 


Das war es dann auch schon. Keine drei Stunden hat meine Tochter benötigt, um nach entsprechender Vorbereitung eine gesunde Tochter in familiärer Umgebung zur Welt zu bringen. 

Auch meine Enkelin wird weder Nuckel noch Schnabelbecher erleben, auch sie wird vermutlich ein „Muttermilch-Junkie“, und auch sie wird wie ihr großer Bruder die ersten Jahre von chemischem Süßkram ferngehalten. Im Angebot stehen dafür reichlich Kuschelmomente, ausgedehnte Freiluftaktivitäten und regelmäßige Gutenachtgeschichten. Ich finde, daß dies kein schlechter Tausch ist.