© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Kabinenklatsch
Vorfreude bleibt aus
Ronald Berthold

Vergangenen Sonnabend kam ich mit einigen Flaschen Bier auf die Terrasse meiner Nachbarn. Dort lief gerade die Bundesliga-Konferenz. Wir schauten zu, wie Bayern Mainz mit 6:2 auseinandernahm, wie Leverkusen wieder mal verlor und Union Berlin weiter auf Herbstmeisterkurs liegt, diskutierten über merkwürdige Elfmeterentscheidungen und plauderten über dies und das. Irgendwann fragte ich meinen Nachbarn: „Sag mal, freust du dich eigentlich auf die WM?“ Er antwortete so wie ich es erwartet hatte: „Nö, überhaupt nicht.“ Geht mir genauso. In zweieinhalb Wochen geht das bedeutendste Fußballturnier der Welt los, und ich habe das überhaupt nicht auf dem Radar. Es folgen sogar noch drei Bundesliga-Spieltage. Das wird eine extrem kurze Vorbereitung für die Nationalmannschaft. Auch deswegen kann ja kaum Vorfreude aufkommen. Demnächst wird es auch herbstlich und ungemütlich sein, während in den Stadien von Katar die Temperaturen auf erträgliche Grade heruntergekühlt werden. Das ganze Turnier in dem arabischen Zwergstaat ist ein Witz. Jeder weiß, daß die Abstimmung über das WM-Land gekauft war, daß dort Tausende Fremdarbeiter beim Bau der Stadien ums Leben kamen und daß die Nummer mit Fußball wirklich absolut nichts mehr zu tun hat. Die Fifa outet sich mit dem Turnier endgültig als korrupter Haufen.

Vielleicht kommt ja im Verlauf der Weltmeisterschaft, wenn die deutsche Mannschaft ein paar Siege einfährt, doch noch so etwas wie Interesse auf. Aber WM-Fieber? Ich werde die Spiele sicher schauen. Aber mit schwarzrotgoldener Fahne über dem Fernseher? Oder mit abgekauten Fingernägeln? Im Moment kann ich mir das absolut nicht vorstellen. Und Sie?