© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/22 / 04. November 2022

Der Flaneur
Könige des Szeneviertels
Paul Leonhard

Schau mal“, sagt die Jugendfreundin aus der Hauptstadt, „ein Konsum“. Sie staunt: „Was es bei euch noch so gibt.“ Und natürlich muß die Filiale des über die Wende geretteten DDR-Einkaufsparadieses unverzüglich besucht werden. Sie benötige dringend eine Geburtstagskarte.

Bevor ich widersprechen kann – Konsum und Glückwunschkarten – entdecke ich einen Drehständer voller bunter Karten. Nach der früher unbekannten Qual der Wahl stehen wir am Band an der Kasse, auf dem neben der Karte auch zwei Flaschen Bier liegen. Die Freundin hat beschlossen, daß wir nicht in eine gemütliche Kneipe einrücken, sondern zünftig durchs Szeneviertel ziehen, so wie wir es vor vier Jahrzehnten selten getan haben – als wir noch nicht so abgeklärt waren, sondern Mut aufbringen mußten, uns überhaupt in diese als verrucht geltende Gegend zu trauen.

Im Tanzklub drehen sich die Pärchen, die leeren Bierflaschen stehen an den Häuserwänden.

An der Kasse liegt am langen Band ein Öffner bereit. Ich öffne die Flaschen, draußen stoßen wir auf einen vergnüglichen nächtlichen Spaziergang an. Es ist zehn vor zehn. Der Konsum macht gleich dicht, dann übernehmen die zahlreichen „Spätis“ mit ihren schier unendlichen Angeboten an verschiedenen Biersorten.

Aber die meisten Nachtschwärmer entscheiden sich für dieselben vier, fünf Sorten, wie an den entlang der Häuser aufgereihten leeren Flaschen zu erkennen ist. Das Viertel müßte eigentlich ein Eldorado für Flaschensammler sein, aber offensichtlich lohnen sich die acht Cent Pfand nicht.

Vor den zahlreichen Imbißstuben stehen Schlangen. Pizzas werden auf Bänken im Freien verzehrt. Einige Gaststätten sind gerammelt voll, andere gähnend leer. An den Preisen liegt das nicht. Diese sind erstaunlich moderat. Wir bestaunen sowohl Graffiti und Schablonenmalereien als auch sorgfältig restaurierte Deckengemälde aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert.

Im Tanzklub drehen sich Pärchen. Noch eine Stunde, dann wandelt sich dieser in eine Diskothek. Die Stimmung ist toll. Vor allem Jungvolk ist unterwegs. Flaneure in unserer Altersgruppe sind selten, dafür grinst man sich wissend an. Sind wir nicht die eigentlichen Könige des Viertels? Was könnten wir für Geschichten aus vergangenen Zeiten erzählen, von legendären Vorwendewirtschaften mit Pferdefleisch und vergessenen Wendezeit-Lokalen.