© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

„Eine gefährliche Entwicklung“
Interview: Wie gefährdet ist die Freiheit der Wissenschaft? Immer mehr Professoren schließen sich in einem von dem Historiker Peter Hoeres mitgegründeten Netzwerk gegen die Ideologisierung von Forschung und Lehre zusammen
Moritz Schwarz

Herr Professor Hoeres, wie gefährdet ist die Wissenschaftsfreiheit?

Peter Hoeres: Wir müssen leider feststellen, daß sie inzwischen einer gravierenden Bedrohung ausgesetzt ist.

Was meint „gravierende Bedrohung“ genau?

Hoeres: Mittlerweile beobachten wir in fast allen Fächern, besonders aber in den Sozial- und Geisteswissenschaften, Einschüchterungsversuche, Drohungen, Blockaden, körperliche Übergriffe bis hin zum „Canceling“ von Kollegen: „Bedrohung“ also nicht im Sinn von potentiell, sondern längst von akut.

Aber im erst jüngst wieder veröffentlichten Akademischen Freiheitsindex (AFI), der jährlich über die Situation der Wissenschaftsfreiheit weltweit informiert, belegt Deutschland Platz eins. 

Hoeres: Auf den ersten Blick mag das wie ein Widerspruch wirken. Man muß jedoch wissen, was der AFI mißt: Er bewertet das Maß staatlicher Einflußnahme auf die Wissenschaftsfreiheit, er fragt aber nicht nach Gefahren für diese, die aus dem Wissenschaftsbetrieb selbst kommen. Das ist legitim, aber man muß seine Daten eben richtig verstehen. Zudem: Wie kommt der AFI zustande? Es handelt sich nicht, wie man vielleicht denken mag, um eine repräsentative oder gar flächendeckende Erhebung, wie die Wissenschaftler eines Landes ihre Lage einschätzen. Stattdessen werden pro Staat lediglich zwei bis drei Experten befragt. Das macht den AFI natürlich sehr stark von subjektiven Ansichten abhängig.

Warum kommen Sie, das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, zu einem genau gegenteiligen Ergebnis?

Hoeres: Weil wir die Situation eben nicht nur unter dem „klassischen“ Gesichtspunkt sehen, also wie frei ist die Wissenschaft gegenüber dem Staat, sondern versuchen, alle Arten ihrer Einschränkung zu registrieren und zu dokumentieren. Und die kommen heute im Zeichen von Identitätspolitik und Cancel Culture vor allem aus der Universität selbst.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang von der Gefahr durch „Agenda-Wissenschaften“. Was ist das? 

Hoeres: Ein zentrales Charakteristikum moderner Wissenschaft ist, daß sie ergebnisoffen sein muß. Dagegen besteht eine Agenda aus Zielen, also vorgefaßten Ergebnissen, die erreicht werden sollen. Daher ist der Begriff eigentlich ein Widerspruch in sich, beschreibt aber treffend, was diese Bewegung ausmacht: Daß in der Wissenschaft nicht mehr die Antwort auf offene Fragen gefunden, sondern politische Interpretationen durchgesetzt werden sollen.

Wie funktioniert das?

Hoeres: Indem durch die eingangs genannten Methoden Druck erzeugt wird, der dazu führt, daß immer mehr Kollegen es nicht mehr wagen, bestimmte mißliebige Themen – etwa Intelligenzverteilung oder Kriminalität im Kontext von Zuwanderung – als Forschungsgegenstand zu wählen, andere Themen – etwa Gender oder Transsexualität – dagegen massiv bevorzugt werden. Oder daß bei der Bearbeitung eines Themas – etwa der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa – relevanten Fragestellungen besser nicht mehr nachgegangen wird, während andere Fragestellungen erhebliche Bevorzugung erfahren – hier etwa die der medialen Inszenierung der Vertreibungsopfer. Der Effekt ist, daß kritische Stimmen verstummen und immer mehr Kollegen die erwarteten Standards „freiwillig“ umsetzen, um nicht etwa ihre Karriere zu gefährden oder gar öffentlich angeprangert und stigmatisiert zu werden.

Kann unter diesen Umständen bei uns überhaupt noch von Wissenschaftsfreiheit gesprochen werden?

Hoeres: Schon, denn trotz allem gilt in Deutschland immer noch das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit, wie es in Artikel 5 unserer Verfassung statuiert ist – was unser Grundgesetz übrigens von vielen anderen Verfassungen unterscheidet.

Der Frankfurter Biologe Hans Peter Klein, Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften und ebenfalls Mitglied im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, beantwortete unlängst im Interview mit dieser Zeitung diese Frage mit einem klaren: „Nein, die existiert nur noch in schönen Sonntagsreden.“

Hoeres: Das halte ich für ein zu weitgehendes Urteil. Gerade in Deutschland ist die Wissenschaftsfreiheit durch den Beamtenstatus, den Professoren in der Regel innehaben und der gewisse Freiheiten gewährt, besser geschützt als in vielen anderen Ländern, die eine solche Institution nicht kennen. Zudem beweist der Umstand, daß etliche der im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit engagierten Kollegen im Wissenschaftsbetrieb aktiv tätig sind, daß es möglich ist, seine Meinung offen zu sagen und auf wissenschaftliche Standards zu pochen. 

Sie leiten den Bereich „Falldokumentation“ des Netzwerks. Wie viele Fälle haben Sie inzwischen gezählt?

Hoeres: Die Falldokumentation wird durch eine Arbeitsgemeinschaft des Netzwerkes erstellt, ich bin im Vorstand dann für die Zusammenarbeit mit den Kollegen zuständig. Wir dokumentieren bislang um die sechzig Fälle auf unserer Website. Allerdings gehe ich von einer hohen Dunkelziffer aus. 

Wie hoch?

Hoeres: Vermutlich eins zu eintausend. 

So viel! Wie kommen Sie darauf?

Hoeres: Zum einen, weil viele gar nicht wollen, daß wir ihre Fälle dokumentieren, um nicht noch mehr negative Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, gerade wenn sie noch nicht verbeamtete Professoren sind. Zum anderen weil sich Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit in zwei Bereichen gar nicht dokumentieren lassen, nämlich in Berufungsverfahren und bei der Selbstzensur. Letztere meint die bereits erwähnte „freiwillige“ Anpassung, vor allem des akademischen Nachwuchses, durch implizite, mitunter auch explizite Drohungen sowie das Statuieren abschreckender Exempel durch die Cancel Culture. Da es bei der dann entstehenden Selbstzensur ja keinen öffentlichen Vorgang gibt, können wir hier auch nichts dokumentieren.

Und die Berufungsverfahren?

Hoeres: Die Auswahl, mit wem ein Lehrstuhl oder eine andere Professur an einer Hochschule besetzt wird, ist ein internes Verfahren, für das ausdrücklich eine Verschwiegenheitspflicht gilt. Dennoch hören wir immer wieder von daran beteiligten Kollegen, daß Bewerber aufgrund von Geschlecht oder zu konservativer Einstellung aussortiert worden sind – und ich selbst habe das auch schon miterlebt. Da aber alles informell vonstatten geht sowie unter dem Siegel der Verschwiegenheit, wozu man sich schriftlich verpflichten muß, ist es auch hier unmöglich, solche Fälle zu dokumentieren und damit schwarz auf weiß nachzuweisen. 

Von Cancel Culture wird schon seit etlichen Jahren gesprochen, dennoch wurde Ihr Netzwerk erst 2021 gegründet. Gab es dafür einen konkreten Anlaß?

Hoeres: Die Entstehung geht zurück auf die Initiative der Migrationsforscherin Sandra Kostner von der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd, die im stark gleichgetakteten akademischen Umfeld ihres Fachs eher eine Außenseiterposition einnimmt – sprich, aus meiner Sicht einen realistischen Blick auf Migration hat. Im Herbst 2020 trafen sich dann 24 Kollegen, darunter ich, in Mainz zu einem Gedankenaustausch – um festzustellen, daß wir alle tatsächlich die gleichen Phänomene erleben. Im Februar 2021 gingen dann siebzig Gründungsmitglieder mit einem Manifest an die Öffentlichkeit, um „die Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen“ und Versuche zu verteidigen, sie „weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren“. 

Inzwischen ist Ihr Netzwerk zwar auf über 700 Unterstützer aus dem akademischen Bereich angewachsen – doch gibt es in Deutschland allein 50.000 Professoren, die wiederum nur ein Bruchteil des gesamten wissenschaftlichen Personals darstellen.

Hoeres: Ich finde auch, daß sich mehr Kollegen im Netzwerk engagieren könnten. Allerdings traut sich nun mal nicht jeder, sich öffentlich zu exponieren. Dennoch wachsen wir und, noch wichtiger, haben Zulauf aus allen Fachrichtungen – übrigens sogar aus der Genderforschung –, was unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität noch wichtiger ist als die bloße Anzahl der Mitglieder. Weshalb wir mit der Entwicklung bisher eigentlich sehr zufrieden sind.

Wie schlimm ist der Druck auf Unterstützer des Netzwerks?

Hoeres: Das hängt, wie gesagt, stark davon ab, ob jemand Professor ist oder nicht. Insgesamt würde ich sagen, daß es in dieser Hinsicht bislang noch keine dramatischen Fälle gegeben hat. Aber man muß schon darauf gefaßt sein, daß die Mitgliedschaft zu Schwierigkeiten führen kann. Allerdings haben wir uns ja zusammengefunden, um gegen eine gefährliche Entwicklung anzugehen. Wer also nicht wenigstens etwas Mut mitbringt, ist bei uns auch nicht richtig.

Kann man das Netzwerk nur als Akademiker unterstützen?

Hoeres: Da wir in die wissenschaftliche Welt hineinwirken wollen, ist die Zahl der Unterstützer aus diesem Bereich natürlich besonders wichtig. Dennoch kann aber jeder durch Spenden oder eine Fördermitgliedschaft zu unserem Anliegen beitragen, wofür wir auch dankbar sind.

Nach Ihrer Ansicht ist die Cancel Culture in Deutschland noch gar nicht voll durchgeschlagen. Inwiefern?

Hoeres: Hierzulande geht es meist noch darum, daß bestimmte Veranstaltungen gecancelt, also verhindert beziehungsweise abgesagt oder „Shitstorms“ gegen Wissenschaftler initiiert werden. In den USA und Großbritannien werden bereits Dozenten selbst gecancelt und verlieren ihre Posten. Ein einschneidender Fall war der der Philosophin und lesbischen Feministin Kathleen Stock von der Universität Sussex, die dem massiven Druck der Kampagne gegen sie im Herbst 2021 nachgab und sich von der Universität zurückzog. Schockierend daran war, daß sich an dem internationalen Shitstorm gegen sie auch etliche Kollegen aus Deutschland wie der Berliner Philosoph Robert Celikates beteiligt haben – und einige darauf offenbar sogar noch stolz waren. 

Ist das Ganze eigentlich wirklich ein neues Phänomen?

Hoeres: Berechtigte Frage, denn bereits in der Ära der Achtundsechziger wurden einige Dozenten so heftig attackiert, daß dies zu Selbstmorden führte. Und gerade jüdische Remigranten unter den Attackierten haben das damals sogar mit dem Terror des NS-Studentenbundes an den Hochschulen in den dreißiger Jahren verglichen. Insofern ist das Prinzip nicht neu. Neu ist jedoch das ganz andere Ausmaß, das heute durch die Technologie, nämlich in Gestalt eines digitalen Shitstorms, erreicht wird. Ferner das Problem, daß Vorwürfe, die früher oft wieder in Vergessenheit gerieten, durch das Internet zu einer dauerhaften Gefahr für die Reputation werden können – selbst dann, wenn sie unbewiesen oder sogar unzutreffend sind. Drittens ging es den Achtundsechzigern in der Regel nur um die politische oder gesellschaftliche Haltung eines Dozenten. Das spielt heute zwar auch eine große Rolle, doch kommen nun auch wieder biologische Merkmale ins Spiel, wie Geschlecht oder Hautfarbe. Etwa bei der Ausladung eines Kollegen durch die Stadt Hannover, nur deshalb, weil er weiß ist und deshalb nicht zu einem Afrika betreffenden Thema sprechen durfte. Und schließlich gibt es nun das Feld der Sprachverfehlungen, wonach ein mißliebiges Wort ausreichen kann, um zum Opfer einer Kampagne zu werden. 

Trotz des Unterschieds, daß die Bedrohung nicht vom Staat ausgeht, sondern aus der Wissenschaft kommt, sehen Sie eine Kontinuität zu staatlichen totalitären Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit. Inwiefern?

Hoeres: Die liegt im identitätspolitischen Moment, das nun wieder Einzug gehalten hat. Denn so wie im Kommunismus im Namen der Klasse, im Nationalsozialismus der Rasse die Wissenschaft unter die Knute der Politik gezwungen wurde, geschieht das nun im Namen immer neuer Opfer­identitäten: Auch heute soll die Wissenschaft nicht mehr der freien Erkenntnis dienen, sondern der angeblich unterdrückten Gruppe, die heute eben aus Frauen und Minderheiten aller Art definiert ist, und die zum neuen Maßstab wird. Ironisch daran ist übrigens nicht nur, daß Identitätspolitik bis in die achtziger Jahre allgemein noch als rechts sowie vielen daher als verwerflich galt, sondern daß sogar die Kategorie der Rasse zurückkehrt – Stichwort: „Kritische Weißseinsforschung“. 

Haben wir es also mit einem neuen Totalitarismus zu tun? 

Hoeres: Die Gefahr dazu liegt in der Tendenz zur zunehmenden Ideologisierung eines Themas, die schon Alexis de Tocqueville beschrieben hat, dem auffiel, daß je geringer eine tatsächliche Diskriminierung werde, um so größer die gefühlte sei. 

Wie weit sind wir dann in Deutschland vom tatsächlichen Ende der Wissenschaftsfreiheit noch entfernt?

Hoeres: Das hängt von denen ab, denen dieses liberale Grundrecht am Herzen liegt: den Wissenschaftlern und Politikern, aber auch den Journalisten, die sich dem Thema widmen sollten. Wenn diese vermehrt aufwachen und etwas Mut aufbringen, sehe ich das Ende der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland nicht. 






Prof. Dr. Peter Hoeres, ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit, zuständig für den Bereich „Falldokumentation und Presseberichterstattung“. Der Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg lehrte zuvor in Essen, Gießen und Mainz. Geboren wurde er 1971 in Frankfurt am Main. 

 www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de

Foto: Demonstration an der Uni Greifswald gegen einen politisch mißliebigen Professor: „Inzwischen beobachten wir in fast allen Fächern Drohungen, Blockaden, Übergriffe und Cancelling“