© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Zahlemann und Stöhnen
Bürgergeld: Nicht nur die Opposition kritisiert die neuen Wohltaten der Koalition, auch die Jobcenter warnen
Peter Möller

Das hatte sich die SPD vermutlich anders vorgestellt. Die Idee eines Bürgergeldes, mit dem das vor allem vom linken Flügel der SPD ungeliebte und seit Jahren bekämpfte Hartz-IV-System abgelöst werden soll, gerät kräftig unter Druck – schon bevor es alle parlamentarischen Hürden genommen hat. 

Während die Union damit droht, das Vorhaben im Bundesrat zu blockieren, wenn nicht Änderungen etwa beim geplanten Schonvermögen und den Karenzzeiten vorgenommen werden, lehnt die AfD-Fraktion das von ihr als Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen kritisierte Bürgergeld grundsätzlich ab und plädiert stattdessen für eine „aktivierende Grundsicherung“ (JF 43/22).

Doch neben dieser politischen Kritik sehen sich die Initiatoren der Reform mit Widerstand aus einer völlig unerwarteten Ecke konfrontiert. Ende vergangener Woche wurde ein Brandbrief der Personalräte der Bundesagentur für Arbeit an Finanzminister Christian Lindner (FDP), Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und den Haushaltsausschuß des Bundestags öffentlich. Darin werden Bundesregierung und Parlament mit Blick auf die für den 1. Januar geplante Einführung des Bürgergeldes vor einer Überlastung der Mitarbeiter der Jobcenter gewarnt. Diese sei „in dieser Form nicht hinnehmbar und tragbar“, heißt es in dem Schreiben. Hintergrund ist die Befürchtung, daß die dadurch verursachte Mehrarbeit „sich mit dem vorhandenen Personal nicht bewältigen lassen“ werde, zumal aufgrund der hohen Energiepreise und der dadurch zu erwartenden vermehrten Anträge auf Unterstützungsleistungen schon jetzt mit deutlich mehr Arbeitsaufkommen zu rechnen sei. 

Daher fordern die Personalräte unter anderem eine Verschiebung großer Teile der Bürgergeldeinführung auf Juli 2023. Zudem seien Tausende zusätzlicher Stellen in den Jobcentern und die Rücknahme der von Finanzminister Lindner für das kommende Jahr vorgesehenen Kürzungen bei den Eingliederungsmitteln für Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt notwendig, lauten weitere Forderungen.

Auch der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, sorgt sich um die Einsatzfähigkeit der Jobcenter und fordert Entlastungen. Im Gespräch mit dem MDR mahnte Landsberg, das Bürgergeld nicht um jeden Preis wie geplant zum Jahreswechsel einzuführen. Man könne etwa zunächst nur den Regelsatz erhöhen. Auch von einer Einführung zum 1. Februar oder 1. April gehe die Welt nicht unter, sagte Landsberg: „Lieber gut und solide als schnell und dann mit Fehlern.“ Die Einführung des Bürgergeldes bedeute auch viel Arbeit für die Jobcenter. Landsberg kritisierte zudem die Pläne der Ampel-Koalition, das Vermögen von Beziehern der neuen Sozialleistung nur noch alle zwei Jahre zu überprüfen: „Es wäre schon besser, das jedes Jahr zu machen. Denn jeder weiß: Das kann sich verändern, zum sehr Positiven, aber natürlich auch zum Negativen“, sagte er. Auch bei der Höhe des Schonvermögens von 60.000 Euro in den ersten zwei Jahren könne er die Kritik der Union nachvollziehen, glaube aber, daß ein Kompromiß möglich sei.

Doch auch ohne die befürchtete Mehrbelastung durch das Reformvorhaben der Ampel-Koalition arbeiten offenbar viele Jobcenter bereits jetzt an der Belastungsgrenze. Darauf deuten verstärkte Meldungen von Betroffenen bei den freien Wohlfahrtsverbänden hin. Das geht nach Angaben des Vorstandsvorsitzenden der Diakonie Sachsen, Dietrich Bauer, aus einer bundesweiten Umfrage bei den Wohlfahrtsverbänden hervor, berichtet der MDR. Demnach hörten die Mitarbeiter der Verbände häufig, daß Leistungsbezieher durch ihre Probleme mit dem Jobcenter verspätete oder gar keine Zahlungen erhielten. Zudem werde immer wieder geäußert, daß zugesandte oder eingeworfene Unterlagen zu spät oder gar nicht bei den Behörden angekommen seien.

„Es nimmt die Motivation zu arbeiten“

Derweil hat CDU-Chef Friedrich Merz im Streit um das Bürgergeld Gesprächsbereitschaft signalisiert. Die Union werde die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze mittragen, kündigte er am Wochenende an. Allerdings müsse über die weiteren Elemente des Bürgergelds wie Heizkostenzuschüsse, Schonvermögen oder Sanktionsmöglichkeiten zu einem späteren Zeitpunkt noch verhandelt werden.

Bei der Ampel stieß dieser Vorschlag auf wenig Gegenliebe, „Das Argument von Herrn Merz verwundert mich ein bißchen“, meinte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am Montag. In den vergangenen Tagen habe sich die Union immer beklagt, daß der Abstand zwischen Bürgergeld und Löhnen nicht groß genug sei. Jetzt wechsele sie den Zusammenhang und wolle nur das Geld erhöhen. „Das wäre arbeitsmarktpolitisch zu kurz gesprungen. Deshalb werben wir für eine große Reform“, bekräftigte der Minister.

Unterdessen erneuerte die AfD-Fraktion am Montag ihre prinzipielle Ablehnung des Bürgergelds. Dieses sei eine Einladung zum Müßiggang. „Es nimmt die Motivation zu arbeiten“, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Norbert Kleinwächter. „Aufgrund der hohen Freibeträge, der nahezu unbegrenzten Übernahme von Wohn- und Heizkosten und der faktischen Sanktionsfreiheit zu Beginn der Bürgergeldkarriere stehen Bürgergeld-empfänger regelmäßig besser da als Arbeitnehmer, die für niedrige Gehälter arbeiten gehen“, kritisierte er.

Foto: Arbeitslose warten auf Einlaß in ein Berliner Jobcenter: Das erhöhte Arbeitsaufkommen sei ohne neues Pesonal wegen des drohenden Ansturms der Antragsteller nicht zu bewältigen