© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Kontroverse um den Ladenschluß
Krisenpolitik: Einzelhandel will Öffnungszeiten grundsätzlich überdenken / Künftig Einschichtbetrieb in Kernbereichen?
Paul Leonhard

Dieter Hieber ist mit einem Jahresumsatz von 254 Millionen Euro einer der erfolgreichsten selbständigen Kaufleute in Südwestdeutschland – und ein echter Trendsetter. So sprach sich der 52jährige schon im Juli für kürzere Öffnungszeiten aus: „Mit der Schließung aller Märkte am Mittwoch nachmittag um 13 Uhr will die Geschäftsführung für Entlastung bei den Angestellten sorgen“, erklärte der Chef der „Hieber’s Frische Center“ im Konstanzer Südkurier. Er beklagte diverse Lieferprobleme, selbst beim Hauptlieferanten Edeka Südwest gebe es Verzögerungen. Und es gebe eine ungewohnte Aggressivität bei der Kundschaft, weil die Regale manchmal nicht sofort aufgefüllt werden konnten und die Lebensmittelpreise steigen: „Das habe das Personal im Markt zu spüren bekommen.“

Thomas Gutberlet, Geschäftsführer der Supermarktkette Tegut mit Sitz in Fulda, forderte grundsätzlich kürzere Ladenöffnungszeiten durchzusetzen: „Kurzfristig würde eine Reduzierung helfen, Energie zu sparen; langfristig würde es das Berufsbild im Einzelhandel wieder attraktiver machen“, hieß es in einem Brief an die Regierungen der Bundesländer. Hieber hat bis zum Ende der Sommerferien im September die Probe aufs Exempel gemacht – trotz der Umsatzeinbußen. Seither ist vorerst wieder von 8 bis 20 Uhr geöffnet. Die linksgrüne Gewerkschaft Verdi will in Thüringen die Ladenöffnungszeiten im Winter generell auf 7 bis 19 Uhr begrenzen: „Damit könnte in der dunklen Jahreszeit ein wirksamer Beitrag zur Energieeinsparung geleistet werden“, hieß es im Oktober in einem offenen Brief an die Landtagsfraktionen in Erfurt.

Energieverteuerung erzwinge spürbare Einschränkungen

Es reiche nicht aus, die Beleuchtung von Werbeschildern und Pylonen abzuschalten – und es sei machbar: „Die Umsätze würden sich vielmehr zeitlich etwas verschieben, zumal in den späten Abendstunden die meisten Geschäfte ohnehin kaum noch stark durch Kundinnen und Kunden frequentiert sind.“ Daß Ministerpräsident Bodo Ramelow von den Linken das ähnlich sieht, ist sicher kein Zufall, schließlich war er von 1981 bis 1999 Gewerkschaftsfunktionär bei der HBV und später bei Verdi. Zudem ist er mit seinen Durchhalteparolen im Ukraine-Krieg näher an CDU, FDP und Grünen als viele altlinke Parteigenossen.

Die „Zeitenwende“ im Einzelhandel ist bemerkenswert, weil es seit Oktober 1989 immer mehr Aufweichungen des seit 1957 geltenden Ladenschlußgesetzes gab: Damals wurde von Schwarz-Gelb der „lange Donnerstag“ bis 20.30 Uhr eingeführt. Ab November 1996 durfte dann wochentags zwischen 6 und 20 Uhr sowie samstags bis 16 Uhr geöffnet werden. Rot-Grün verlängerte 2003 den Ladenschluß am Samstag auf 20 Uhr. Mit der Föderalismusreform von 2006 brachen dann die letzten Dämme: Der Ladenschluß wurde Ländersache. Nur Bayern und das Saarland blieben bei den Ladenöffnungszeiten von 2003 – dank einer Allianz aus Katholiken und Gewerkschaftlern.

Und das, obwohl schon 1999 eine Studie des Münchner Ifo-Instituts zur „Untersuchung der Effekte der Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes im Einzelhandel“ ein verändertes Kundenverhalten konstatierte: „Die wochenendnahen Tage von Donnerstag bis Samstag werden von gut 50 Prozent der Verbraucher zum Kauf in den verlängerten Öffnungszeiten genutzt.“ Jüngere und berufstätige Verbraucher würden „dies in besonderem Maße tun“. Und mehr als die Hälfte der Verbraucher berichte „über wesentliche Erleichterungen für die Gestaltung ihrer Freizeit“. Doch nur während der Corona-Krise durften im Freistaat Lebensmittelgeschäfte vorübergehend bis 22 Uhr öffnen.

Bis dahin wurde in linksliberalen Kreisen sogar ernsthaft über ein Aus der verfassungsrechtlich garantierten Sonn- und Feiertagsruhe diskutiert. Aber seit der Energiekrise heißt es nun wieder: Kommando zurück! Und manche Branchen nutzen die Situation auch, um ihre Dienstleistungen einzuschränken. Möbelhäuser überlegen, den ersten Werktag in der Woche ihre Türen verschlossen zu halten. Das Ifo-Institut liefert hierfür passende Argumente: Die Kunden seien im dritten Quartal seltener einkaufen gegangen. „Wegen der hohen Inflationsraten können sich gerade einkommensschwache Menschen weniger leisten und sind zurückhaltend mit Einkäufen“, sagt Ifo-Ökonom Klaus Wohlrabe. Besonders betroffen waren die Möbelhäuser – 80 Prozent der befragten Unternehmen beklagten, daß weniger Kunden kamen.

Banken versuchen mit immer weniger Dienstleistungen in immer weniger Filialen ihre Kunden ins Online-Banking zu zwingen. Die Post würde gern an weniger Werktagen als bisher Briefe zustellen, und die Paketzusteller nehmen es mit dem Zustellversuch oft gar nicht mehr so genau, sondern beliefern gleich ungefragt den Paketshop. Selbst Amazon empfiehlt nicht mehr die persönliche Zustellung, sondern die Abholung bei einem „Hub Locker“: zentralen blauen Metallschließfächern in Einzelhandelsgeschäften.

Die Hälfte des Strombedarfs verursacht die Kühltechnik

Hamburger Kaufleute haben auch nachgerechnet und plädieren dafür, „auch angesichts des Fachkräftemangels die Öffnungszeiten nachhaltig zu reduzieren“, so Andreas Bartmann, Präsident des Handelsverbandes Nord und Geschäftsführer der Globetrotter-Kette. Allerdings nimmt er Waren des täglichen Bedarfs aus. Bei Textilien, Schuhen oder Schmuck sei ein Kernbereich „zwischen 10 und 19 Uhr“ sinnvoll: „Auch, weil wir dann im Einschichtbetrieb arbeiten können“ und die Läden weniger Verkäufer vorhalten müssen.

Bei Aldi-Nord, wo schon immer knallhart gerechnet wurde, schließen seit voriger Woche die meisten der 2.200 Standorte schon um 20 Uhr – trotz möglicher Umsatzeinbußen. Damit wolle man im Winter 2022/23 „aktiv einen Beitrag zum Energiesparen“ leisten, erklärte der aus Essen verwaltete Discounter via Twitter. Aber vielleicht hat es auch etwas mit anhaltenden Lieferengpässen zu tun: 90 Prozent des Lebensmitteleinzelhandels berichteten in der aktuellen Ifo-Konjunkturumfrage „von Problemen“. Und die Aldi-Konkurrenz bringt ihren Kunden ohnehin seit Monaten bei, daß es sich eigentlich nicht lohnt, abends einzukaufen: Es wird einfach nicht nachgefüllt, was besonders am Backtresen auffällt. In Franken gebe es Fälle, wo die Bedienzeiten an den Theken im Laden eingeschränkt wurden, sagte Bernd Ohlmann, Geschäftsführer des Handelsverbands im Bayerischen Rundfunk (BR): In Schwaben kenne er Geschäftsinhaber, die einen Nachmittag in der Woche oder am Montag nicht mehr öffnen.

Kaufland, Lidl, Rewe, Penny, Edeka, dm, Obi, Rossmann oder die Bio-Kette Alnatura planen bislang keine Veränderung ihrer Öffnungszeiten. Die erzielbare Energieeinsparung wäre marginal, heißt es in der Antwort von Rewe und Penny auf eine Anfrage des BR. Die Hälfte des Energiebedarfs entfalle auf die Kältetechnik und sei unabhängig von Öffnungszeiten. Bei Aldi-Süd besteht weniger Handlungsbedarf. Die Mehrzahl der 2.000 Filialen befindet sich in Bayern und dem Saarland, dort darf nur bis 20 Uhr geöffnet sein. In den anderen Bundesländern gelte: „Längere Öffnungszeiten bis 21 Uhr bieten wir nur in den Filialen an, in denen der Bedarf seitens der Verbraucher besteht.“

HDE-Zahlenspiegel 2022: einzelhandel.de

Ifo Konjunkturperspektiven 10/22: ifo.de