© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Die deutsche Börsenaufsicht hat völlig versagt
Wirecard-Skandal: Der Brite Dan McCrum schildert in seinem spannenden Buch, wie er den größten Betrug der Dax-Geschichte aufgedeckt hat
Martin Krüger

Am 25. Juni 2020 mußte der Dax-Konzern Wirecard Insolvenz anmelden – weil „plötzlich“ in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro „fehlten“. Und der Skandal um den obskuren Finanzdienstleister ist längst nicht ausgestanden: Gerichtsprozesse laufen, und erst im Oktober trennte sich die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) von ihrer Exekutivdirektorin Béatrice Freiwald – nach einer monatelangen juristischen Auseinandersetzung. Ihr Chef Felix Hufeld konnte sich nur bis Frühjahr 2021 halten. Doch der 62jährige fiel nicht ins Bodenlose: er kam bei Rantum Capital unter, einem Finanzierer von „Fintechs“, wo auch Air-Berlin-Gründer Joachim Hunold oder Frank-Jürgen Weise, der Ex-Chef der Bundesagentur für Arbeit, mit an Bord sind.

Wie es so weit kommen konnte, hat der britische Financial Times-Journalist Dan McCrum aufgeschrieben. In 34 Kapiteln und 464 Seiten werden auf Basis Hunderter Gespräche und einer Unmenge E-Mails und Dokumente die turbulenten Wirecard-Jahre nachgezeichnet. Die Überschriften zeigen seismographisch Termin, örtliche Begebenheit, Aktienkurs und Börsenwert an. Drehbuchartig werden die Akteure charakterisiert: Etwa „Disco-Paule“ (Paul Bauer-Schlichtegroll), der ursprüngliche Wirecard-Eigentümer, der keine Berührungsängste mit der „Halbwelt“ hatte.

Das ursprüngliche Geschäftsmodell war die Abrechnung für Pornoseiten. Und als erfahrener Zahlungsabwickler etablierte man dann das „Drittpartnergeschäft“ mit Treuhändern. McCrums treffende Beschreibung: Die „unbekümmerte Unternehmenskultur und Unlust gegen das Aufbewahren irgendwelcher Aufzeichnungen wurde von ganz oben geprägt.“ Sprich: Es gab keine Protokolle von Aufsichtsratssitzungen bei dem Börsenunternehmen und eine „Think big“-Haltung: Markteintritt in China, lobbyiert vom Ex-Minister Karl-Theodor zu Guttenberg und von Angela Merkel vor Ort adressiert. Im Projekt „Panther“ sollte die Deutsche Bank übernommen werden. Ausführlich werden die akribische Recherche von Leerverkäufern, Hedgefonds und der Zatara-Börsenreport sowie das eklatante Versagen der deutschen Behörden dargelegt.

„Ich votiere für deine Russen. Die sollen uns Ruhe verschaffen.“

Natürlich kommt auch die Rolle der Financial Times bei der Aufdeckung des Wirecard-Skandals nicht zu kurz. Denn die Konzernführung um Markus Braun fühlte sich ertappt und investierte 45 Millionen Euro für Anwälte, Steuerberater, Privatdetektive sowie PR-Profis – und nicht zuletzt in Helfershelfer des angeblich in Wien geborenen Topmanagers Ján Maršálek, der seit Sommer 2020 vergeblich mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Ein „Lösungsvorschlag“ für den neugierigen Dan McCrum lautete damals: „Ich votiere für deine Russen. Die sollen uns Ruhe verschaffen.“ Frappierend ist, wie Maršálek zunächst mit der Bemerkung zum Transfer von 1,9 Milliarden Euro durchkam: „Geben Sie mir ein wenig Zeit, um das herauszufinden, ich habe die Namen vergessen.“

Auch sein Büro war einmalig: Dort gab es einen lebensgroßen Pappaufsteller von Donald Trump. Berichtet wird von Libyen-, Österreich- und Rußland-Verbindungen, Geheimdiensten, Stasi-Kontakten und Casinos von Palästinensern. Würde es McCrum dem Leser nicht so glaubwürdig erzählen, könnte man es kaum glauben. Maršáleks Chef Markus Braun wird als Besessener beschrieben, der seinen Laden mit Pressemitteilungen auf Trab hält. Spannend wird der beschleunigte Untergang im Frühjahr 2020 geschildert, als die neuen Wirtschaftsprüfer unter zunehmendem Zeitdruck Nachweise der Kontoguthaben fordern – und Maršálek weiter ganz „cool“ bleibt. Eindrucksvoll beschreibt McCrum, wie 870 Millionen Euro von dubiosen Partnern erbeutet wurden und Wirecard letztlich mit Schulden von 3,5 Milliarden Euro unterging.

Allein die Commerzbank zahlte 175 Millionen Euro drauf. Ihre Analystin, Wirecard-Fan Heike Pauls, wurde im Januar 2021 gefeuert und mußte dann per Gerichtsurteil wieder eingestellt werden. Ironisch wird aus dem Bundestagsuntersuchungsausschuß die Frage zitiert, ob die Bundesregierung ein Abonnement der Financial Times habe? „Jetzt ja.“ Zum Schluß gibt McCrum den Deutschen ein paar Empfehlungen: Whistleblower schützen, Unternehmen durchsichtiger machen und mehr Transparenz bei Steueroasen.

Dan McCrum: House of Wirecard – Wie ich den größten Wirtschaftsbetrug Deutschlands aufdeckte und einen Dax-Konzern zu Fall brachte. Econ Verlag, Berlin 2022, gebunden, 464 Seiten, 25 Euro