© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Lebendige Stadtmitte
Raumordnung: Eine Stiftung wirbt für die Rekonstruktion der Berliner Altstadt
Peter Möller

Berlin hat seine Altstadt gleich zweimal verloren. Was der Bombenkrieg und die Straßenkämpfe der Schlacht um Berlin nicht in Trümmer legten, räumte das SED-Regime in den sechziger und siebziger Jahren fast ausnahmslos ab. Die jahrzehntelange Teilung der Stadt und die Herausbildung zweier Teilstädte sorgte zudem dafür, daß der alte Kern der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin und Cölln fast vollständig aus dem kollektiven Gedächtnis der Berliner verschwand.

Einzig das kleine Viertel rund um die mittelalterliche Nikolaikirche, das DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker zum 750. Stadtjubiläum 1987 auf einem kleinen Teil der Altstadt aus historisierenden Plattenbauten und den wenigen erhaltenen originalen Häusern zusammenbasteln ließ, gibt mit seinen schmucken Gassen zumindest eine Ahnung davon, wie das alte Berlin einst ausgesehen hat. Das zwischen Spree, Hauptverkehrsstraßen und weiten Freiflächen im alten Zentrum liegende Nikolaiviertel wirkt denn auch wie eine aus der Zeit gefallene Insel. Immerhin: Seitdem schräg gegenüber auf der anderen Spreeseite wieder die barocke Fassade des Stadtschlosses aufragt, wirkt das bei Touristen beliebte Viertel nicht mehr ganz so verloren.

Und es könnte in den kommenden Jahren – oder besser Jahrzehnten – noch besser kommen. Denn es gibt in Berlin einen neuen Anlauf, das derzeit noch unwirtliche Areal der einstigen Altstadt zwischen Alexanderplatz und der Spree, auf dem die altehrwürdige Marienkirche und das Rote Rathaus verloren als letzte Relikte der Vergangenheit stehen, wieder in etwas zu verwandeln, das dem Ideal der europäischen Stadt nahekommt: ein dicht bebautes Gebiet mit kleinteiliger Bebauung, in dem die Menschen sich gerne aufhalten, arbeiten und wohnen.

Als Vorbild für ein derartiges Projekt, das der Hauptstadt, der schon immer das gehässige Diktum anhaftete, sie sei eigentlich nur eine Ansammlung von Dörfern, ihre Mitte zurückgeben könnte, dienen ähnliche Rekonstruktions- und Wiederaufbauprojekte etwa in Dresden oder Frankfurt am Main. Auch dort sind historische Stadtstrukturen, die als Folge des Krieges und des Wiederaufbaus fast vollständig ausgelöscht waren, rekonstruiert und zu neuem Leben erweckt worden – zum Verdruß so mancher „progressiven“ Kulturpolitiker und Architekten und zur Freude der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung und der Gäste aus aller Welt.

Unter dem Motto „Für das Herz der Stadt“ wirbt seit einigen Wochen die von der Unternehmerin Marie-Luise Schwarz-Schilling initiierte „Stiftung Mitte Berlin“ dafür, das historische Zentrum der Hauptstadt wieder aufzubauen und sich dabei an der Vorkriegsbebauung zu orientieren. „Wir setzen uns ein für ein dichtes Stadtquartier mit attraktiven Straßen und Plätzen. Anstelle des jetzigen Lochs in der Berliner Mitte, das aus zugigen Verkehrs- und Freiflächen besteht, befürworten wir neue Häuser auf dem Stadtgrundriß der 1920er Jahre“, bittet die Stiftung auf ihrer Internetseite um Unterstützung. Antrieb seien nicht nostalgische Gründe, sondern der Umstand, daß die Mitte mit ihrer dichten und kleinteiligen Bebauung zu dieser Zeit so viel lebendiger gewesen sei. Ziel sei „ein internationales Vorzeigeprojekt für den Umbau der autogerechten Betonstadt in eine nachhaltige und menschenfreundliche Innenstadt anzuregen“.

Doch die Initiatoren rund um die 90jährige Ehefrau des früheren Bundespostministers Christian Schwarz-Schilling wissen, daß der Weg hin zur Wiedergewinnung der historischen Mitte Berlins steinig und voller Widerstände ist. „Natürlich wird diese wie Rom nicht an einem Tag erbaut. Wir brauchen also einen langen Atem“, lautet die realistische Einschätzung der Stiftung.

Die Unternehmerin Marie-Luise Schwarz-Schilling, der die Berliner Altstadt noch lebhaft aus Kindertagen in Erinnerung ist, dient bei diesem Projekt nicht nur als Ideengeberin, sondern hat auch den finanziellen Grundstock für die Stiftung gelegt. Doch um das ambitionierte Ziel zu erreichen beziehungsweise um erfolgreiche Überzeugungsarbeit leisten zu können, wird die Stiftung auf weitere Investitionen angewiesen sein.

Denn anders als beispielsweise in Dresden, wo die Rekonstruktionen rund um die wiederaufgebaute Frauenkirche von einem Großteil der Bevölkerung mitgetragen wurden, weht den Berliner Altstadt-Liebhabern ein rauherer Wind entgegen. Nicht nur DDR-Nostalgiker sträuben sich dagegen, das nach dem Idealbild einer sozialistischen Stadt mit viel Freiflächen gestaltete Gebiet zwischen Alexanderplatz und Spree wieder in eine Altstadt zu verwandeln. Der Berliner Senat wünscht sich statt der Rückkehr urbanen Lebens lieber den Erhalt der Freiflächen und die Umgestaltung in einen Park.

Dabei dürften sich die wenigsten dem Zauber der Entwürfe, die auf der Internetseite der Stiftung für das Projekt werben, entziehen können. Für ausgewählte Standorte in der Altstadt haben die Initiatoren aktuelle Fotos ihrer computergeschaffenen Vision für die Zeit nach dem Wiederaufbau gegenübergestellt. Dabei verwandelt sich etwa die Freifläche des einstigen „Großen Jüdenhofs“ wieder in einen lauschigen kleinen, umbauten Platz inmitten der Altstadt. Auch für die zugigen Weiten rund um die Marienkirche und das Rote Rathaus zeigt die Stiftung, wie es ihrer Meinung nach gelingen könnte, hier wieder einen städtebaulichen Zusammenhang mit dem Rest der Stadt herzustellen.

Doch der aktuelle Streit über die Planungen zur Neugestaltung des Molkenplatzes in der ehemaligen Altstadt läßt erahnen, was auf die Stiftung zukommt und wie viele Widerstände bei einem solchen Projekt in Berlin zu überwinden sind. Der Molkenmarkt, immerhin der älteste Marktplatz Berlins, war im Zuge der Umgestaltung der „Hauptstadt der DDR“ in eine überdimensionierte Verkehrswüste verwandelt worden. Nun werden die Straßen auf ein erträgliches Maß zurückgebaut, um der Bebauung wieder mehr Platz einzuräumen. Im Prinzip passiert hier also im Kleinen, was sich die Stiftung für das gesamte Areal der Berliner Altstadt wünscht.

Doch im September stoppte Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt überraschend das Wettbewerbsverfahren zur künftigen Gestaltung des Molkenmarktes. Damit bleibt vorerst weiter offen, wie die geplanten Neubauten aussehen werden. Weitere Verzögerungen sind nicht ausgeschlossen. Ein Schicksal, das auch den ambitionierten Plänen der Stiftung drohen könnte.


 https://stiftung-mitte-berlin.de/