© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Man gönnt sich ja sonst nichts!
Kino: Die Tragikomödie „Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ ist die Neuauflage des berühmten Klassikers mit Inge Meysel
Dietmar Mehrens

Sparen ist angesagt. Vor allem für Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Deutschland im Herbst 2022? Keineswegs. „Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ entführt die Kinozuschauer ins London des Jahres 1957. Hier lebt die Kriegerwitwe Ada Harris und verdingt sich als Haushaltshilfe. Als sie bei einer ihrer Kundinnen ein phänomenales und sündhaft teures Dior-Kleid erblickt, ist ein Traum geboren: Mrs. Harris fährt nach Paris, wie der Film (und die Buchvorlage) in Anlehnung an den Filmklassiker „Mr. Smith geht nach Washington“ (1939) mit James Stewart im Original heißt.

Die eigentlich eher bodenständige Putzfrau rennt sonst in Sachen herum, die bei anderen in die Altkleidersammlung wandern würden, standesgemäß sozusagen. Aber nun ist sie wie vom Donner gerührt und beschließt spontan, selbst so ein schönes Stück zu besitzen. Emsig spart sie sich jeden Penny vom Munde ab, hat Glück mit einer nachträglichen Pensionszahlung für ihren im Krieg gebliebenen Edward und setzt schließlich alles auf eine Karte: Beim Pferderennen startet ein Außenseiter namens Haute Couture. Wenn das kein Zeichen ist!

Ein bißchen Sonnenschein im tristen Alltag

Einige Rückschläge sind zu verkraften. Mit der Begründung: „Wir müssen in diesen Zeiten alle sparen“, kündigt ihr ausgerechnet die Dior-Kleid-Besitzerin, die alles ins Rollen brachte, an, Adas Dienste künftig nicht mehr im gewohnten Umfang nutzen zu wollen. Mit deutlich mehr Glück als Verstand kratzt die beherzte Britin dennoch die 500 Pfund für ihr Traumkleid sowie das nötige Kleingeld für die Reise nach Paris zusammen.

In der Modemetropole geht das Abenteuer erst richtig los: Die rührige Seniorin muß herausfinden, wo das berühmte Modehaus seinen Sitz hat. Und leider findet sie auch heraus, daß es gar nicht so leicht ist, Zutritt zum Hause Dior zu bekommen. Dort wacht nämlich die snobistische Claudine Colbert (Isabelle Huppert) als Torhüterin darüber, daß kein Unwürdiger sich in die heiligen Hallen der Haute Couture verirrt. In dem blutjungen und bildschönen Mannequin Natascha (Alba Baptista) hat Ada jedoch eine heimliche Verbündete. Es wäre doch gelacht, wenn Ada sich von ein paar kleinen Rückschlägen von ihrer Mission abbringen ließe!

In Zeiten, in denen die Menschen sich kleine Luxusausgaben wieder wie damals in der Nachkriegszeit vom Munde absparen müssen, bekommt „Ein Kleid von Dior“ (1958), erdacht von dem amerikanischen Romancier Paul Gallico (1897–1976), unerwartete Aktualität. Gallicos Erzählung ist ein moderner Klassiker und wurde bereits vor vierzig Jahren von Peter Weck („Ich heirate eine Familie“) fürs deutsche Fernsehen verfilmt. Hauptrolle damals, 1982: Inge Meysel. Vor deren Leistung muß sich Lesley Manville, die diesmal in die Rolle der kühnen Kriegerwitwe schlüpfte, keinesfalls verstecken. Denn auch sie spielt die naive, aber erstaunlich resolute Reinigungskraft mit erfrischender Leichtigkeit, ohne dabei den Nuancenreichtum der Figur außer acht zu lassen.

Der englische Regisseur Anthony Fabian hat seine Protagonistin gekonnt ins Bild gesetzt, eine ganze Riege charismatischer Nebendarsteller um sie geschart und so eine visuell stimmige, humorvolle und leichtfüßige Version der Komödie geschaffen. Die britisch-ungarische Co-Produktion versetzt perfekt in die Zeit der Fünfziger. Einige der Szenen verdanken ihr authentisches Ambiente aber nicht Paris, sondern entstanden in Budapest.

Natürlich schielt die heiter-besinnliche Geschichte vor allem auf das modebewußte weibliche Publikum. Männer müssen sich trotzdem nicht ausgegrenzt fühlen. Die sympathisch besetzten Nebenrollen, allen voran Lambert Wilson als verwitweter Freiherr und Lucas Bravo als schüchterner Brautwerber, bieten auch für sie das nötige Identifikationspotential. 

Es soll ja Menschen geben, die schlechte Laune bekommen, wenn die Tage kürzer und – neuerdings auch noch – die Stuben kälter werden. Für sie ist dieser Film gemacht. Mit ihrem unerschütterlichen Optimismus hat Mrs. Harris im wortwörtlichen Sinne das Zeug dazu, ein bißchen Sonnenschein in ihren tristen Alltag zu bringen, auch wenn einem im wahren Leben ein Happy-End bekanntermaßen nur selten so widerstandslos in den Schoß fällt wie den Helden und Heldinnen des Kinos.


Kinostart ist am 10. November 2022