© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Auf dem Weg ins Jahrhundert der Einsamkeit?
Stilles Thema
(dg)

Die Corona-Pandemie hat die öffentliche Aufmerksamkeit erstmals auf ein weitverbreitetes, aber tabuisiertes Phänomen westlicher Gesellschaften gelenkt: die Einsamkeit mit ihren drastischen individuellen wie sozialen Folgen. Wie Manfred E. Beutel, Mareike Ernst (beide Uni-Klinik für Psychosomatische Medizin Mainz) und die Sozialpsychologin Susanne Bücker (Sporthochschule Köln) warnen, habe die Pandemie nur eskalieren lassen, was sich seit langem  abzeichne: eine Entwicklung hin zum „Jahrhundert der Einsamkeit“. Die objektive soziale Isolation ist in vielen westlichen Industrienationen seit den 1970ern gestiegen, ablesbar an der Zahl der Einpersonenhaushalte. Dazu gehörten 2019 allein in Deutschland 42 Prozent aller Haushalte, 1991 waren es erst 34 Prozent. Ob dieser Trend automatisch indiziert, daß auch Einsamkeitsgefühle und daran gekoppelte Depressionen, Angststörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zunehmen, ist für die erst in den Anfängen steckende Einsamkeitsforschung noch nicht faßbar. In der bisher umfassendsten Meta-Analyse zu diesem „stillen Thema“, die 200.000 Probanden über ihr Einsamkeitserleben vor und nach der Pandemie befragte, konnte global ein nur leichter Einsamkeitsanstieg gemessen werden. Deutschland jedoch fiel  unter den 30jährigen, vor allem bei Studenten, durch überdurchschnittliche Werte auf. Diese Zunahme sei nicht zwingend als pathologische Reaktion einzustufen, sondern zeige die in der Pandemie erhöhte Bereitschaft, sich Einsamkeitsgefühle, die sonst als Folge „persönlichen Versagens“ interpretiert und verdrängt würden, einzugestehen und in Befragungen anzugeben (Forschung & Lehre, 10/2022). 


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