© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Er stürzte sich ins akademische Schlachtengetümmel
Germanophiler Sinndeuter: Vor einhundert Jahren verstarb der schwedische Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén, der den Begriff „Geopolitik“ prägte
Felix Dirsch

Wenn man ein Beispiel für die Ausstrahlung des deutschen Geistes auf das Ausland vor dem „großen Krieg“ sucht, so ist dieses schnell gefunden: Das Nordlicht Rudolf Kjellén gab sich bereits früh als Anhänger deutscher kulturgeschichtlicher Überlieferungen zu erkennen. Bekannt wurde er hierzulande vornehmlich durch seine Interventionen in Debatten zu Beginn des Ersten Weltkrieges.

1864 geboren, wuchs Kjellén in einem Pfarrhaushalt auf. Nach Studium und Promotion wirkte er zuerst als Professor für Staatswissenschaften und Statistik an der Hochschule in Göteborg, später an der Universität Uppsala. Er zählte zu den herausragenden akademischen Persönlichkeiten in seinem Heimatland, vor allem als Mitglied des Reichstages in Stockholm (1905–1917) und als Mitglied der renommierten Königlichen Wissenschafts- und Literaturgesellschaft in Göteborg.

Kontroverse um einen Aufruf deutscher Intellektueller 

Ein so epochales Ereignis wie der Ausbruch des Ersten Weltkrieges spielte sich nicht nur auf der militärischen Ebene ab, sondern suchte ebenso nach geistiger Legitimation. Anfang Oktober 1914 erschien in verschiedenen in- wie ausländischen Zeitungen der von 93 führenden deutschen Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern unterzeichnete Aufruf „An die Kulturwelt!“ Zu den bekannten Namen darunter zählen Gerhardt Hauptmann, Peter Behrens, Max Reinhardt und Wilhelm Röntgen. Diese prominenten Vertreter deutscher Kultur wandten sich vor allem gegen ausländische Vorwürfe von der Kriegsschuld des eigenen Landes, aber auch gegen die polemische Meinung, Deutschland habe „freventlich die Neutralität Belgiens verletzt“.

Neben Diskussionen rund um dieses Manifest setzte eine ganze Reihe von kulturpolitischen Kontroversen ein. Sie gingen über die aktuelle Situation öfter weit hinaus. Unter den „Ideen von 1914“ ist kein fixes Programm zu verstehen, sondern ein „heterogenes Konglomerat nationalpolitischer Sinndeutungen und gesellschaftspolitischer Zukunftsentwürfe“ (Ernst Piper). Man hatte den deutschen Sonderweg mit seinen vielfältigen Implikationen im Hintergrund als eine der Ursachen der Auseinandersetzungen ausgemacht. Offenkundig schien, daß das militärische Ringen nicht ohne langen Vorlauf im geistigen Überbau begriffen werden könne: Die deutsche kulturelle Tradition stehe der westlichen Zivilisation gegenüber und sei dieser, vielen Intellektuellen zufolge, überlegen. Heutige Historiker, etwa Ernst Piper, interpretieren solche apologetischen Stellungnahmen gern als Versuche, die angebliche Inferiorität der „verspäteten Nation“ zu überwinden. Letztlich beleuchtet eine derartige Kritik jedoch nur einen Teil der Phänomene.

Geprägt hat den Begriff der „Ideen von 1914“ der Münsteraner Staatswissenschaftler Johann Plenge. Er wird heute nicht selten als einer der Väter eines „nationalen Sozialismus“ und einer parteienübergreifenden „Volksgemeinschaft“ herausgestellt. 

Kjellén kommt das Verdienst zu, die deutsche Ideenwelt in Abgrenzung zu der von „1789“ popularisiert zu haben. Der entsprechende Vortrag vom Mai 1915 über dieses Thema wurde bald gedruckt. Seine theoretische Deutung erweist sich als fundierter als diejenige der meisten Diskutanten, weil sie über bloße Antithetik hinausgeht. Der Staatswissenschaftler sieht „1789“ als unvermeidliche Antithese zum Ancien régime, das er als historische These betrachtet. Den deutschen Weg in die Moderne exponiert er wiederum als Synthese, als adäquate Verbindung von Moderne und Traditionsgebundenheit, von Individualismus und Kollektivismus.

Der Versuch der Kontrastierung zur westlichen Zivilisation steht bei etlichen von Kjelléns Mitstreitern (neben anderen Werner Sombart, Georg Simmel, Thomas Mann und Ernst Troeltsch) im Vordergrund: Gemeinschaft versus Gesellschaft, organisches versus atomistisch-parlamentarisches Modell, Idealismus versus Materialismus und Utilitarismus und so fort. Genauer besehen drehen sich die Gedanken über den deutschen Weg aber nicht nur um spezifische Inhalte; sie suchen – in Anlehnung an enigmatische Nietzsche-Sentenzen – vielmehr das richtige Leben, die wahre und ursprüngliche Existenz, die Abkehr von allen Oberflächlichkeiten. Anfangs schien der Krieg als reinigendes Gewitter solchen Absichten sogar förderlich zu sein.

Wiederaufstieg eines gedemütigten Landes

Kjelléns Neurezeption in den letzten Jahren hängt jedoch stärker mit seinen Schriften auf einem anderen Gebiet zusammen: der Geopolitik. Dieses Feld boomt seit der Wende von 1989/90 erneut, jüngst besonders im Kontext des Ukrainekrieges, der häufig als geostrategische Auseinandersetzung gedeutet wird. Den Begriff „Geopolitik“ hat der Gelehrte in seinem Buch „Der Staat als Lebensform“ geprägt, das im Original 1916 erschienen ist. Die deutsche Übersetzung kam acht Jahre später auf den Markt. Sie gab den vielfältigen geopolitischen Kontroversen der 1920er Jahre nachhaltigen Auftrieb. „Geopolitik“ unterscheidet sich von der älteren Politischen Geographie, die gern als ihre harmlosere Schwester bezeichnet wird, durch den engen Bezug zur praktischen Umsetzung. Diese betrachteten Wissenschaftler wie Karl Haushofer wegen der Bevölkerungs- und Grenzverschiebungen infolge des Ersten Weltkrieges als unabdingbar für den Wiederaufstieg des gedemütigten Landes. Heute wird diese Neuausrichtung weithin als Sündenfall betrachtet.

Geopolitik wird von Kjellén als die „Lehre vom Staat als geographischem Organismus oder als Erscheinung im Raum“ definiert. Der Staat, in Anlehnung an den Geographen Friedrich Ratzel als Organismus interpretiert, soll demnach primär unter dem Aspekt Land, Territorium oder Gebiet wahrgenommen werden. Damit wandte er sich gegen rechtspositivistische Bestimmungen des Staates nur vom Recht her – zweifellos eine verkürzte Perspektive. Letztlich ging es ihm vornehmlich um den Entwurf eines Systems der Politik.

Vor allem Kjelléns starke Akzentuierung des Reichsbegriffs wie auch der „Ethnopolitik“ hat ihm viele Angriffe eingebracht. Unter den jüngeren Zeitgenossen prangerte ihn der marxistische Theoretiker Karl A. Wittfogel als „faschistischen Propheten“ an. Stimmen wie diese sind hauptsächlich dafür verantwortlich, daß der einst so exzeptionelle europäische Denker seinen Mythos weitgehend eingebüßt hat – in Deutschland, dem weithin geopolitiklosen Land, jedoch mehr als in seiner Heimat.