© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

In der Tiefe der Erde
Kino: Der Abenteuerfilm „Il Buco – Ein Höhlengleichnis“ von Michelangelo Frammartino kommt ohne Dialoge aus
Claus-M. Wolfschlag

Der dritte Langfilm des italienischen Regisseurs Michelangelo Frammartino (54) muß als Gleichnis und Bilderreigen betrachtet werden. Wer einen klassischen Plot oder gar das schnelle Mainstream-Kino der Gegenwart erwartet, wird gnadenlos enttäuscht. Die radikale Entschleunigung, die Frammartino dem Zuschauer abverlangt, funktioniert nur, wenn man fast meditativ in die gezeigte Bildwelt eintaucht, die in eine urtümliche, nur rudimentär von der modernen Zivilisation erreichte Landschaft führt.

„Il Buco – Ein Höhlengleichnis“ spielt während des italienischen Wirtschaftswunders der Nachkriegsjahre, dessen Blüte auf die Zeit zwischen 1958 und 1963 datiert wird. Die Richtung des Fortschritts ist ganz nach oben gerichtet, himmelwärts. 1960 wurde das 127 Meter hohe Pirelli-Hochhaus in Mailand fertiggestellt, damals das zweithöchste Gebäude Europas. Kurz darauf sollte der russische Kosmonaut Juri Aleksejewitsch Gagarin als erster Mensch ins Weltall fliegen und die Erde umrunden. Auch kam es in jenen Jahren zu spektakulären Bergbesteigungen, unter anderem durch den Italiener Walter Bonatti.

1961, in dieser Zeit der euphorischen Himmelsstürmerei, verließen Giulio Gècchele und sein Team aus jungen piemontesischen Höhlenforschern das boomende Norditalien, um sich in den scheinbar unterentwickelten Süden des Landes zu begeben. Ihr Interesse lag, ganz dem Trend entgegenlaufend, in der Tiefe der Erde. Einen bis dahin unerforschten Erdriß in einem einsamen Tal des kalabrischen Hinterlandes erkletterten sie auf abenteuerliche Weise. Sie sollten etwa 700 Meter heruntergelangen und dabei die zweittiefste Höhle der Welt, den Bifurto-Schlund, entdecken. Im Gegensatz zu den Schlagzeilen, die das Pirelli-Hochhaus in den Medien erzeugte, blieb die Expedition Gèccheles der Öffentlichkeit jedoch fast unbekannt.

Aus einem anderen Filmprojekt resultierte die Bekanntschaft zwischen Frammartino und dem Bürgermeister des nahe gelegenen Ortes Alessandria del Carretto, Antonio La Rocca. Jener, selbst Höhlenforscher, wies Frammartino auf die wilde Schönheit des Pollino-Gebirgsmassivs im südlichen Apennin hin. Dabei führte er den Regisseur auch zum Eingang des  Bifurto-Schlunds. „Für jemanden wie mich, der kein Höhlenforscher ist, schien es nur ein einfaches Loch im Boden zu sein. Es lag inmitten einer ziemlich gewöhnlichen mediterranen Macchia und war nicht besonders faszinierend. Ich weiß noch, wie ich ihn ungläubig ansah“, berichtet der Regisseur. Doch dann begann sein Interesse zu wachsen. Frammartino begleitete Alessandria del Carretto zu einer Höhlenexkursion und begegnete dabei dem 81jährigen Giulio Gècchele, der 1961 die erste Expedition leitete.

Eine geheimnisvolle, urtümliche Welt erfassen

So entstand der Film „Il Buco – Ein Höhlengleichnis“, mit dem die Geschichte jener historischen Expedition fast wortlos nacherzählt wird. Dabei bleibt ein Spannungsfeld zwischen den jungen Forschern, die mit wissenschaftlichen Methoden und grafischen Aufzeichnungen eine geheimnisvolle, urtümliche Welt zu erfassen versuchen, und der Natur, die ihnen mit massivem Gestein viele Hindernisse in den Weg stellt. In der Dunkelheit läßt der Schein ihrer Taschenlampen nur punktuelle Wahrnehmungen zu. Sie sehen nur, was sie sehen wollen, können aber das Ganze nur erahnen.

Im Gegensatz zum Erreichen eines Gipfels, der als Sieg betrachtet wird, ist das Erreichen eines Höhlengrunds oft mit dem Gefühl der Melancholie verbunden. Man hat ein zuvor nicht gekanntes Ende erreicht, einen zumeist engen, dunklen, schlammigen Ort. Mehr scheint dort nicht zu sein, und alle Mühsal hat nur dazu geführt, nichts zu finden. So erlebt der Zuschauer Verzauberung und Entzauberung in einem.

Kinostart ist am 10. November 2022