© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Den Nordpol zum zwölften Mal entdeckt
Philosophie: Eine französische Biographie versucht sich an der tristen Neuinszenierung des „Nazis“ Martin Heidegger
Ulrich Dressel

Auf die Frage seines Sohnes Nicolaus, warum er denn über eine häusliche Bibliothek mit einigen zehntausend Bänden verfügen müsse, gab der universalgelehrte Nationalökonom Werner Sombart eine knappe, etwas verklausulierte Antwort: „Um den Nordpol nicht zum zweiten Mal zu entdecken.“ Weniger bildhaft formuliert der auch als Literaturhistoriker brillierende Schriftsteller Arno Schmidt die Anforderungen an einen wissenschaftlichen Autor: „Wenn Sie über einen ‘Gegenstand’ schreiben wollen, müssen Sie wissen, was man vor Ihnen darüber gearbeitet hat.“

So funktioniert im Idealfall Forschung: als ein auf Gewinn und Weitergabe von Erkenntnissen gerichtetes Generationenprojekt. Dem Pariser Historiker Guillaume Payen hingegen scheint diese in jedem Proseminar vermittelte Binsenweisheit nicht zugänglich gewesen zu sein. Darum war er leichtsinnig genug, eine Biographie Martin Heideggers in Angriff zu nehmen, ohne den auf diesem Forschungsfeld von zahlreichen Vorgängern angehäuften Stoff gründlich zu verwerten. Mit dem Resultat, daß er eben den Nordpol zum zweiten, im Rückblick auf die einschlägig „antifaschistisch“ und „anti-rassistisch“ konnotierten Versuche mindestens sogar zum zwölften Mal entdeckt hat. Bringt er es doch fertig, auf immerhin, inklusive Fußnotenapparat, 700 Seiten partout nichts Neues über den Jahrhundertdenker mitzuteilen. Wie der Philosoph und Baseler Hochschullehrer Harald Seubert, seit 2016 Vorstandsvorsitzender der internationalen Heidegger-Gesellschaft, darauf kommt, das opulente Opus für die Verlagswerbung als „Beginn einer neuen Ära der Beschäftigung mit Heideggers Leben und Werk“ zu feiern, kann nur den Grund haben, daß er den Wälzer jedenfalls nicht sorgfältig genug gelesen hat.

Neue Quellen kann der Autor nicht beibringen, im Archiv war er nie

Payen ist, so verrät der Klappentext, für seine „Forschungen zu Heideggers Antisemitismus“ von der Fondation pour la Mémoire de la Shoah gefördert worden. Im Zentrum seines Interesses an dem Philosophen steht also das, was 1987, als die Anklageschrift „Heidegger et le Nazisme“ des Soziologen Victor Farías erschien, erstmals international Sensation machte. Seitdem kreiste die Heidegger-Literatur, soweit sie sich an ein breites Publikum wendet, fast monothematisch um die Beziehung des Denkers zur NS-Bewegung und ihrer Verbrechen. Und nachdem 2013 die „Schwarzen Hefte“, die „Gedankentagebücher“ aus den 1930er und 1940ern mit ihrem vornehmlich kulturkritisch-politischen Inhalt aus dem Nachlaß veröffentlicht wurden, scheint es definitiv Mode geworden zu sein, im 100bändigen Œuvre Heideggers nichts anderes zu sehen als einen „in die Philosophie transformierten Antisemitismus“ (Peter Trawny).

Besonders die französische Rezeption ist bis heute von dieser den „Nazi Heidegger“ dämonisierenden, ihn so nahe wie möglich an Hitler und Auschwitz heranschiebenden Deutung geradezu besessen. Emmanuel Faye, der Robespierre unter diesen Jakobinern, fordert darum in irrer Konsequenz, Heideggers „rassistisch kontaminierte“ Werke aus den Regalen wissenschaftlicher Bibliotheken zu entfernen. Im Ton moderater, in der Sache aber ähnlich verblendet wie Faye, hat Payens diese Biographie geschrieben.

Neue Quellen kann er nicht beibringen, im Archiv war er nie. Sein einziger Vorstoß zum Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach scheiterte, weil ihm der begehrte Einblick in die während des Zweiten Weltkriegs geführte Korrespondenz zwischen Martin Heidegger und seinem Bruder Fritz verweigert wurde. Ihm blieb daher nur übrig, seine Darstellung auf schlampig edierte Briefwechsel wie den zwischen Heidegger und seiner Frau Elfride, auf Erinnerungen von Schülern wie Karl Löwith sowie auf die nur extrem selektiv benutzte Forschungsliteratur zum wissenschafts- und zeithistorischen Kontext zu stützen. „Quellengesättigt“ im ursprünglichen Sinne, wie der Verlag behauptet, ist diese Textkompilation aus zweiter Hand mitnichten – bestenfalls „sekundärquellengesättigt“.

Da dieses aus älteren Biographien wie jener Rüdiger Safranskis hinlänglich bekannte Material nichts hergibt für seine triste Neuinszenierung des „antisemitischen Nationalisten“, zögert Payen nicht, wüste Spekulationen an die Stelle empirisch gesicherter Tatbestände zu setzen. So behauptet er, ohne den geringsten Beweis beizubringen, Heidegger habe die NS-Rassenpolitik in Form von Zwangssterilisierungen und „Massenmorden an Behinderten“, die 1939 mit der „Aktion T 4“ begannen, „gebilligt“, sie für „wünschenswert und unvermeidlich“ gehalten. Einmal enthemmt, wagt sich Payen zu weiteren vulgären Verdächtigungen vor: „Heidegger hieß die nationalsozialistische Politik der Rassenhygiene also gut; ob er das aber auch mit der Politik der Verfolgung und dann der Ausrottung der ‘Nicht-Arier’ in Deutschland und Westeuropa tat, läßt sich bei der derzeitigen Quellenlage nicht eindeutig sagen.“ Man vergleiche einmal, wie differenziert Lorenz Jäger in seiner im vorigen Jahr erschienenen Heidegger-Biographie (JF 43/21) mit dem Thema umgeht. Nur ein einziges Mal, in einer während seines Rektorats gehaltenen Tischrede zum 50jährigen Bestehen des Freiburger Pathologischen Instituts, habe er sich im August 1933 in die Gefilde der Rassenhygiene begeben. Es sei sein Glück gewesen, vom realexistierenden Nationalsozialismus bald wieder so abgestoßen gewesen zu sein, daß er solcher „Biopolitik“ nicht weiter frönen konnte: „Die Rede war ein einmaliger, nicht weiterverfolgter Vorstoß in einen Bezirk, in dem bald die Greuel begannen.“

Oft und gern füllt Payen seine Wissenslücken mit Gedankenspielen. So kenne er zwar keine Details über die Teilnahme des jüngsten Sohnes, Hermann Heidegger, am Rußlandfeldzug, wolle es aber „für möglich“ halten, „daß er Befehle zu Massakern erteilt hat“. Ebenso hilflos orakelt er, Heidegger habe „möglicherweise“ Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ gelesen. Solche niederträchtigen Assoziationen sind keine Ausreißer, sondern kennzeichnen die unseriöse „Methode“. Kaskaden von Fehlinformationen stürzen daher auf den Leser herab. Das reicht von einem putzigen „Generalstab der Kriegsmarine“ bis zum Todesdatum von Heideggers Mentor Edmund Husserls, das Payen von 1938 auf 1937 vordatiert.

Gravierender ist der lässige Umgang mit Zitaten. So appliziert er Wilhelm Dilthey den Dank an Paul Yorck von Wartenburg, „die jüdische Routine“ von Berliner Lehrstühlen ferngehalten zu haben. Diese judenfeindliche Passage stammt jedoch aus einem Brief Yorcks an Dilthey, da nur der Berliner Ordinarius, nicht der schlesische Landedelmann die Berufungspolitik beeinflussen konnte. Mithin verwandelt flüchtige Lektüre Dilthey im Nu in einen Antisemiten. Die für Heideggers Auffassung von „Geschichtlichkeit“ in „Sein und Zeit“ (1927) kaum zu überschätzende Edition dieses Briefwechsels (1923) stammt übrigens nicht von Erich Rothacker, sondern von Sigrid von der Schulenburg – wie Payen ihrer Einleitung hätte entnehmen können.

Ideengeschichte mit der Brechstange

Aber warum bibliographische Sorgfalt von jemandem erwarten, der schon im größeren Rahmen der Wissenschafts- und Geistesgeschichte kläglich versagt. Max Scheler lehrt für Payen 1926 in München, nicht in Köln, wohin ihn Oberbürgermeister Konrad Adenauer zwecks Erneuerung des rheinischen Katholizismus 1919 berufen hatte. Dem Privatdozenten Karl Löwith wird ein Marburger Lehrstuhl angedichtet. Der nicht einmal habilitierte Heidelberger Philosophiehistoriker Franz Josef Brecht soll 1928 „wahrscheinlich“, so mutmaßt der mit der institutionellen Basis des deutschen Philosophiebetriebs gänzlich unvertraute Payen, das Zweitgutachten im Marburger Promotionsverfahren von Heideggers Schüler Hans Jonas angefertigt haben. Tatsächlich war es Heideggers Kollege, der für solche Amtshandlungen allein zuständige zweite Marburger Ordinarius, der Leibniz-Experte Dietrich Mahnke.

Wer bei solchen vermeintlichen Petitessen fortlaufend irrt, zeigt dann keine Skrupel, auch Ideengeschichte mit der Brechstange zu treiben. Heideggers berühmte geschichtsphilosophische Metapher von der „Zange“, in die die USA und die Sowjet-union, Amerikanismus und Bolschewismus, das Reich als „Land der Mitte“ genommen hätten, hat für Payen seinen Ursprung in den „Protokollen der Weisen von Zion“, die die Legende von der „jüdischen Weltverschwörung“ strickten. Allein korrekt wäre die Herleitung aus dem Diskurs der Weimarer Republik, wo die kapitalistische und die kommunistische „Kollektivmacht“ als Einheit figuriert, die die abendländische Kultur vernichten werde. Sofern es ihr gelinge, den Europäern ihr – heute würden wir sagen – globalistisches Menschenbild vom  „vegetativen, transzendenzlosen Dasein“ des restlos der Produktionslogik unterworfenen bloßen Gattungsteilnehmers aufzuzwingen (Walter Riezler, 1926). 

Genug. Der Platz reicht hier nicht für die endlose Korrekturliste, die in eine (nicht wünschenswerte) zweite Auflage dieses Machwerks einfließen müßte.

Guillaume Payen: Heidegger. Die Biographie, Verlag wbgTheiss, Darmstadt 2022, gebunden, 704 Seiten, 50 Euro