© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Wie gehen die Buren, die seit langem vor den multikulturellen Problemen des Westens stehen, mit diesen um?
Sich behaupten
Ernst van Zyl

Wir leben in Zeiten, in denen die Mehrheit der Menschen in den westlichen Ländern glaubt, daß das Schicksal ihrer Gemeinschaften von den Ergebnissen der Parteipolitik abhängt. Zugleich sind immer mehr Menschen desillusioniert von Wahlen als dem wichtigsten Mittel zur Bewahrung ihres kulturellen Erbes und ihrer Gemeinschaften. Um sich inspirieren und leiten zu lassen, lohnt ein Blick nach Südafrika. Denn das Land ist in vielerlei Hinsicht seiner Zeit voraus, wenn es um die prognostizierte Entwicklung des modernen Westens geht.

Welche Erkenntnisse aber können wir Afrikaaner teilen, als Minderheitengruppe in einer multikulturellen Gesellschaft aus der Peripherie der westlichen Sphäre, die mit zahlreichen Krisen zu kämpfen hat und sich immer öfter die Frage stellt, welchen Stellenwert Identität, Gemeinschaft und Verwurzelung heute noch haben? Zu welchen Schlußfolgerungen hinsichtlich politischer und kultureller Problemlösungen sind wir, die wir in Südafrika leben, gekommen, nun da die Formulierung von Lösungen für die Zukunft außerhalb des parteipolitischen Paradigmas zu einer existentiellen Notwendigkeit geworden ist?

Das Problem mit der modernen globalisierten Denkweise ist, wie der Ökonom Russell Lamberti es ausdrückte, daß „wenn man überall leben kann, man oft vergißt, irgendwo zu leben“. Am Ende verdrängt man, woher man kommt und wohin man geht. Im Zeitalter der Fernarbeit nutzen die Menschen mehr denn je die Möglichkeit, von jedem beliebigen Ort aus zu leben und zu arbeiten. Zu diesen Orten, an die die Menschen fliehen, gehören unverhältnismäßig viele versteckte Küstendörfer und schöne, alte Städte auf dem Land.

Diese idyllischen Reiseziele sind oft deshalb so begehrt, weil die Menschen, die dort seit Generationen leben, hart daran gearbeitet haben, nicht nur den architektonischen und ästhetischen Charakter dieser Orte zu bewahren, sondern auch für den Erhalt der traditionellen Werte zu kämpfen, die das Fundament dieser Gemeinschaften bilden. Der britische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton erkannte dies, als er schrieb: „Die Menschen haben Rom nicht geliebt, weil es groß war. Es war groß, weil sie es geliebt hatten.“

Wer heute ein Büro mit Postkartenblick zu seinen obersten Prioritäten zählt, zieht an Orte, in die Menschen ihr Leben investiert haben, die sie innig lieben und in denen ihre Vorfahren über Generationen hinweg durch dick und dünn gegangen sind. Nicht nur Rom, sondern auch jede andere besondere Stadt oder jedes Dorf mit Charakter wurde nicht an einem Tag erbaut. Heute ernten viele Neuankömmlinge die Früchte der generationenübergreifenden Verantwortung und Opfer, die ihnen oft nicht bewußt sind. Besonders bedenklich: Es gibt wenig bis gar keine Garantie dafür, daß diese neuen Bewohner überhaupt bleiben und kämpfen werden, wenn ähnliche Herausforderungen auftreten, die sie dazu gebracht haben, ihre vorherige Heimat zu verlassen.

Das Problem, das entsteht, wenn man ständig in höher gelegene Gebiete zieht, um der steigenden Flut zu entkommen, besteht darin, daß es irgendwann keine höher gelegenen Gebiete mehr gibt. Irgendwann muß jeder sich zur Wehr setzen. Wenn nicht Sie, dann werden es Ihre Kinder sein. Es ist unverantwortlich und feige, die Verantwortung für die Lösung der größten Probleme und Herausforderungen unserer Zeit an künftige Generationen „auszulagern“. Wir können Komplikationen nicht ewig entkommen.

Die Mehrheit der Afrikaaner sind weder in der Lage noch willens auszuwandern. Das ist die harte Realität. Für Millionen von uns gibt es keine andere Möglichkeit, als hier für eine Zukunft zu kämpfen und sie zu gestalten. Es sollte daher nicht überraschen, daß einer der Slogans der Solidariteit-Bewegung lautet: „Bauen, um zu bleiben.“ Dies sind nicht nur leere Worte, sondern sie spiegeln sich auch in unserem Handeln wider. AfriForum, das ein Teil der Solidariteit-Bewegung ist, vereint mehr als 305.000 Mitglieder, die für eine gemeinsame Sache spenden, um die Zukunft zu gestalten.

Seit ihrer Gründung im Jahr 2006 hat die Organisation über 150 Nachbarschaftswachen und zahlreiche Farmwachen eingerichtet und Notfalldienste entwickelt. Wir haben mehr als 155 Zweigstellen im ganzen Land gegründet, die unter anderem Nachbarschaften säubern, Gemeinschaftsgärten und Bäume pflanzen, Tausende von Schlaglöchern pro Jahr reparieren, Katastrophenhilfe leisten und vieles mehr. AfriForum hat auch einen eigenen Verlag, eine Film- und Dokumentarfilmproduktionsfirma und ein Theater. AfriForum hat eine private Strafverfolgungsbehörde gegründet, die Strafverfahren übernimmt, wenn der Staat versagt oder sich weigert, diese zu übernehmen. Die Solidariteit-Bewegung hat eine eigene private Hochschule gegründet und mit „Sol-Tech“ eine technische Bildungseinrichtung von Weltrang errichtet.

AfriForum und die Solidariteit-Bewegung mußten Pionierarbeit leisten, um ein Modell für die Erarbeitung von Lösungen außerhalb von Parteipolitik und staatlichen Strukturen zu entwickeln. Natürlich spielt Parteipolitik noch immer eine große Rolle. Doch auf das Ergebnis von Wahlen kann man sich nicht allein verlassen, wenn es darum geht, eine sichere und nachhaltige Zukunft für die eigene Gemeinschaft zu gewährleisten. Wie Flip Buys, der Vorsitzende der Solidariteit-Bewegung, sagt: „Während Politiker an die nächste Wahl denken, denken wir an die nächste Generation.“

Wo auch immer jemand sich in der Welt befindet, wir alle haben von Gott gegebene Talente und eine von Gott gegebene Berufung. Wir haben die Verantwortung, diese Talente nicht zu verstecken, diese Berufung zu finden und ihr zu folgen. Wer anfängt, aktiv zum Aufbau von etwas beizutragen, das größer ist als er selbst, hat eine viel höhere Chance, dabei seine wahre Berufung zu entdecken. Es gibt keinen besseren Ort, um mit dem Bau von Fundamenten zu beginnen, als das eigene Land, die eigene Gemeinde. Der „Heimvorteil“ ist nicht ohne Grund ein entscheidender Faktor im Sport. Der berühmte General des (Zweiten) Burenkrieges, Christiaan de Wet, erklärte stolz: „Ich würde lieber auf einem Misthaufen unter meinem Volk stehen, als in den luxuriösesten Palästen unter Fremden.“

Der, der seine Gemeinschaft stärkt, ist in unruhigen Zeiten viel weniger verwundbar. Man sollte bereit sein, aufzustehen und für das zu kämpfen, was in seinen Vierteln, Städten und Gemeinden bereits vorhanden ist und was es verdient, erhalten zu werden. Stellen Sie sich dem moralischen und physischen Verfall und beheben Sie ihn, anstatt ihn zu ignorieren oder davor zu fliehen! Die zersetzende Mentalität, die heute die Fasern der Gemeinschaften im Westen zerfressen hat, gleicht einer törichten Einstellung. Die Leute glauben, ihre Vorfahren hätten die Rechnung bereits mit ihrem Blut, ihrem Schweiß und ihren Tränen bezahlt, was der heutigen Generation eine ständig offene Rechnung in der Kneipe ermögliche.

Der beispiellose materielle Wohlstand der Neuzeit hat die Menschen im Westen dazu verleitet, naiv zu glauben, daß der Lauf der Geschichte abgeschlossen sei, daß ihr zivilisatorisches Haus von früheren Generationen in mühevoller Kleinarbeit fertiggestellt wurde und daß sie für immer bequem von ihrem grenzenlosen Erbe leben könnten.

Um der Aufgabe als kulturelles Bindeglied zwischen den Generationen gerecht zu werden, muß man sich zunächst darüber im klaren sein: Sie sind nur ein Bein in einem Mehrgenerationen-Staffellauf! Flip Buys sagte: „Ein Volk ist immer nur eine Generation tief. Wenn nur eine Generation den Staffelstab im großen Staffellauf nicht übernimmt, fällt eine Schule, eine Kirche, eine Institution und schließlich eine Zivilisation.“ Zweitens müsse jeder sich fragen: Ist man wirklich bereit, als das schwache Glied in die Geschichte einzugehen, das die große kulturelle Kette, die einen mit der Vergangenheit und der Zukunft verbindet, unterbrochen hat? Will jemand als Teil der ersten Generation seiner Nation in die Geschichte eingehen, die angesichts der existentiellen Herausforderungen ihrer Zeit geantwortet hat, sie sei zu groß und unüberwindbar? Ich lehne das auf jeden Fall ab. Und Sie?






Ernst van Zyl ist Kampagnenbeauftragter für Strategie und Information bei AfriForum, der Interessenvertretung der Afrikaaner, die im deutschsprachigen Raum vor allem als Buren bekannt sind. Er hat einen Master-Abschluß (cum laude) in Politikwissenschaften von der Universität Stellenbosch. Van Zyl ist Co-Moderator des Podlitiek-Podcasts und auf Twitter unter seinem Pseudonym „Conscious Caracal“ zu finden.

Foto: Teil eines Monumentalgemäldes in der Voortrekker-Gedenkstätte in Pretoria: Denkmal zu Ehren der Buren aus der Kapkolonie, die Mitte des 19. Jahrhunderts weitere Gebiete des heutigen Südafrikas besiedelten