© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Das deutsche Hongkong
Vor 125 Jahren nahm das Deutsche Reich in China das „Schutzgebiet Kiautschou“ in Besitz
Thomas Schäfer

Die Geschichte der deutschen Kolonien wird oft in den düstersten Farben gezeichnet. Dabei war die Kolonialzeit für die Kolonisierten nicht selten auch gewinnbringend. Ein typisches Beispiel hierfür ist das Schutzgebiet Kiautschou (Jiaozhou) rund um die chinesische Hafenstadt Tsingtau (Qingdao), das quasi zu einem deutschen Hongkong mutierte.

Angesichts der zunehmenden Schwäche des seit 1644 von der mandschurischen Qing-Dynastie beherrschten Reiches der Mitte gelang es den westlichen Großmächten sowie Rußland und Japan im Verlauf des 19. Jahrhunderts, China zum Abschluß mehrerer ungleicher Verträge zu zwingen, welche die Souveränität des Kaisers in vielerlei Hinsicht beschränkten. Die Folge davon war unter anderem die Schaffung von Stützpunktkolonien an der Küste und die Öffnung der chinesischen Häfen für den Freihandel.

Deutschland blieb hieran zunächst unbeteiligt, obwohl der prominente preußische Forschungsreisende Ferdinand Freiherr von Richthofen, der sieben Expeditionen nach China unternommen hatte, 1872 empfahl, in der Bucht von Tsingtau einen Flottenstützpunkt zu errichten. Damit traf er die Intentionen des Konteradmirals Alfred von Tirpitz, einem glühenden Verfechter des Ausbaus der deutschen Hochseeflotte, der schließlich 1897 zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes avancierte. Das seit etwa 1890 favorisierte Kreuzerkriegskonzept sah vor, weltweit Flottenbasen einzurichten, von denen aus im Kriegsfall die Handelslinien des Gegners über See attackiert werden konnten. Allerdings reflektierte Kaiser Wilhelm II. auf die Insel Taiwan, die dann aber durch den Vertrag von Shimonoseki 1895 an Japan ging. 

Während man in Berlin also noch überlegte, wie hinsichtlich der Marinestützpunkte in China verfahren werden sollte, kam es im fernen Reich der Mitte zu einer brutalen Gewalttat: In der Nacht vom 1. zum 2. November 1897 metzelten zwei Dutzend Bewaffnete die beiden deutschen Missionare Richard Henle und Franz Xaver Nies auf dem Gelände der „Steyler Gesellschaft des Göttlichen Wortes“ in Zhangjiazhuang im Süden der chinesischen Provinz Shandong am Gelben Meer nieder.

Das nahm Wilhelm II. zum Anlaß, am 7. November 1897 an den Chef der Ostasiatischen Kreuzerdivision, Konteradmiral Otto von Diederichs, zu telegraphieren: „Gehen Sie augenblicklich mit ganzem Geschwader (nach) Kiautschou, besetzen Sie geeignete Punkte und Ortschaften daselbst und erzwingen Sie von dort aus in Ihnen geeignet scheinender Weise vollkommene Sühne. Größte Energie geboten. Zielpunkt Ihrer Fahrt geheimhalten.“ Daraufhin landeten am 14. November Marinesoldaten der Kreuzerdivision unter dem Kommando von Kapitän zur See Hugo Zeye bei Tsingtau und übernahmen die Kontrolle über die umliegende Bucht, ohne dabei auf irgendwelchen Widerstand zu stoßen. Dem folgten ab dem 20. November Verhandlungen bezüglich chinesischer Kompensationsleistungen wegen des Zwischenfalls in der Steyler Mission, während der deutsche Staatssekretär des Äußeren, Bernhard von Bülow, im Reichstag verkündete: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Damit spielte er auf den Umstand an, daß andere Mächte längst Stützpunkte in China besaßen.

Und tatsächlich mündeten die bilateralen Gespräche schließlich am 6. März 1898 in die Unterzeichnung eines Vertrages, mit dem das Deutsche Reich die Bucht von Kiautschou für 99 Jahre pachtete und die volle Oberhoheit dort erhielt. Kurz darauf, am 27. April 1898, wurde das Pachtgebiet unter kaiserlichen Schutz gestellt und erlangte damit den gleichen rechtlichen Status wie alle anderen deutschen Kolonien. Dabei unterstand Kiautschou jedoch nicht der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, sondern dem Reichsmarineamt, das die Gouverneure vor Ort einsetzte. Abgesehen vom ersten Inhaber dieses Postens, der 1899 abgelöst wurde, erwiesen sich die Marineoffiziere an der Spitze der Verwaltung des Schutzgebietes allesamt als äußerst befähigt, wenn es darum ging, dessen Entwicklung im positiven Sinne voranzutreiben. Bis 1914 wurden in Kiautschou 26 Grundschulen, zehn Missionsschulen, vier Berufsschulen, eine Hochschule, mehrere Kindergärten und ein Krankenhaus errichtet sowie zahlreiche Strom- und Trinkwasserleitungen verlegt und ein funktionierendes Kanalisationssystem geschaffen – und natürlich eine Brauerei, die heute zu einer der weltweit größten zählt. 

Den Einnahmen standen fünfmal so hohe Investitionen gegenüber

Die schnell boomende Wirtschaft profitierte zudem vom neuen Hafen in Tsingtau sowie dem Anschluß an das Weltpost-, Telefon- und Telegraphennetz. Dazu kam die binnen sieben Jahren erbaute 400 Kilometer lange Eisenbahnlinie nach Tsinan Fu (Jinan), der Hauptstadt von Shandong. Seit 1904 war es sogar möglich, innerhalb von nur 13 Tagen über die Transsibirische und Transmandschurische Eisenbahn von Deutschland nach Kiautschou zu reisen. Zwischen 1898 und 1914 investierte Deutschland 200 Millionen Reichsmark in das Pacht- und Schutzgebiet, wohingegen die Einnahmen nur bei 36 Millionen Mark lagen.

Angesichts der hohen Lebensqualität sowie der vergleichsweise liberalen politischen Verhältnisse zogen massenhaft Chinesen aus Shandong nach Kiautschou: Während 1897 nur 1.500 Menschen im Raum Tsingtau siedelten, stieg die Zahl der Einwohner von „Klein-Berlin“ am Gelben Meer bis 1914 auf knapp 60.000. Und im gesamten Schutzgebiet, das etwa die Größe Hamburgs hatte, verdoppelte sich die Bevölkerung. Aus all diesen Gründen bezeichnete der US-Politikwissenschaftler Bruce Gilley in seiner 2021 publizierten Schrift zur „Verteidigung des deutschen Kolonialismus“ Kiautschou als „ultimative Musterkolonie“, während antikoloniale Ideologen wie George Steinmetz in der Kombination von funktionierender Infrastruktur und wirtschaftlicher Blüte lediglich „kulturellen Imperialismus“ sahen.

Fakt ist indes, daß der Gouverneur der umliegenden chinesischen Provinz Shandong, Zhou Fu, bald nach der Errichtung des deutschen Schutzgebietes Methoden der dortigen Verwaltung zu kopieren begann, wonach er dem Kaiser in Peking am 31. Dezember 1902 untertänigst empfahl, das gleiche zu tun. Und nach dem Sturz der Qing-Dynastie äußerte dann der erste provisorische Präsident der Republik China, Sun Yat-sen, 1912 bei einem Besuch der Handelskammer von Qingdao: „In 3.000 Jahren hat China hier nicht geschafft, was die Deutschen in 15 Jahren geschafft haben (…) Wenn jede Provinzregierung Chinas zehn Vertreter nach Qingdao schicken würde, um etwas über Verwaltung, Städte, Straßen, Hafenanlagen, Universitäten, Wälder, öffentliche Infrastrukturen und die Regierung zu lernen, wäre dies von großem Nutzen für China.“ Danach vergingen freilich nur noch reichlich zwei Jahre, bis zahlenmäßig überlegene japanische Truppen das Schutzgebiet am 7. November 1914 nach harten Kämpfen eroberten und dem gelungenen deutschen Kolonialexperiment in Kiautschou ein abruptes Ende setzten.