© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Die Lust am Zerstören gewachsener Strukturen
Von letzten Dingen: Max-Rainer Uhrig schildert die materialistische Unkultur des Todes zwischen Engels und Stalin
Reiner Pohl

Georg Simmel, einer der Gründerväter der deutschen Soziologie, nahm gern die Betrachtung scheinbar banaler Alltagsdinge zum Ausgangspunkt seiner Analysen moderner Kultur. In der Nußschale etwa des Henkels einer Vase bildete der Lebensphilosoph in seiner „Philosophischen Kultur“ von 1919 dann die Grundprinzipien menschlicher Existenz und ihrer gesellschaftlichen Organisation ab.

Was für Simmel der Henkel ist, ist für den pensionierten fränkischen Gymnasiallehrer Max-Rainer Uhrig die Feuerbestattung. Darüber hat er bereits eine kulturhistorische Monographie vorgelegt („Auf den Spuren des Phönix“, 2017), damit eröffnet sein jüngstes Werk zur „Kultur und Unkultur des Todes im Marxismus-Leninismus und Nationalsozialismus“. Uhrig beginnt anekdotisch mit dem Tod von Friedrich Engels im August 1895. Testamentarisch hatte der „säkulare Prophet“ des Proletariats verfügt, seinen Leichnam einzuäschern und die Asche im Meer zu versenken. Womit Uhrig schon vom Tod eines einzelnen zum Allgemeinen, der Bewältigung des Todes in der Bestattungskultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts fortschreitet. Denn Engels’ letzter Wille ist die konsequente Übersetzung seiner materialistisch-atheistischen Weltanschauung, für die mit dem Tod nichts als die Rückkehr des Körpers in den natürlichen Kreislauf des Lebens beginnt. Dank ausgefeilter Krematoriumstechnik ließ sich die stoffliche Hülle auch fast mühelos entsorgen. Die zunächst bürgerliche Feuerbestattungsbewegung, die um 1900 auch die Arbeiterbevölkerung erfaßte und überall in West- und Mitteleuropa den Bau von Krematorien vorantrieb, hatte insoweit der Tatsache Rechnung getragen, daß im „Abendland“ der christliche Glaube seit der Aufklärung auf dem Rückzug war. 

Das Verschwinden im Nichts als Prinzip des Materialismus

Entsprechend veränderten sich Sterben und Sterbensbewältigung. Im Unterschied zur religiös eingerahmten Erdbestattung gerät die Einäscherung zum technischen Akt. So auch bei Engels, dessen Leichnam im Krematorium Woking verbrannt wurde, das inmitten der „Necropolis London“ lag, einem der größten Friedhöfe der Welt. Die Anlage war nahe der Millionenstadt London auf Massenbetrieb ausgerichtet und glich einer dem industriellen Zeitalter durchaus angemessenen Verbrennungsfabrik. 

Auch eine historische Gestalt wie Friedrich Engels verschwand in Woking im Nichts. Die Zone des technischen Vorgangs der Körpervernichtung ist als verbotene Sphäre der Öffentlichkeit entzogen, und die Verbrennung findet regulär unter Ausschluß der Trauergemeinde statt. Daß bei Engels’ Einäscherung sechs Freunde des Verstorbenen anwesend sein durften, galt bereits als Zugeständnis. Dieser anonymisierenden Verdrängung des Todes stellt Uhrig im starken Kontrast den bizarren Umgang mit dem Leichnam Lenins gegenüber. Der russische Revolutionsführer, nach drei Schlaganfällen bereits ein Schatten seiner selbst, war am 21. Januar 1924 gestorben. Fünf Tage später beschloß der 2. Sowjetkongreß der UdSSR die Errichtung eines Mausoleums auf dem Roten Platz, damit ein einbalsamierter Lenin „unüberschaubaren Arbeitermassen“ hinfort präsentiert werden konnte. Der Vorschlag, derart einen roten Heroenkult zu etablieren, von dem er als Nachfolger Lenins zu profitieren hoffte, kam von Stalin und wurde gegen innerparteiliche Widerstände realisiert. 

Uhrig sieht in diesem ersatzreligiösen, der Herrschaftslegitimierung dienenden Totenkult den Beginn einer „schleichenden Pervertierung des sowjetischen Systems“. Zeremonien, Paraden und Kundgebungen, die sich vor dem Mausoleum vollzogen, hätten der Huldigung des Herrschers gedient, der in die Fußstapfen seines Vorgängers getreten war: „Stalin auf dem Grab Lenins stehend – konnte es eine wirksamere Legitimation von Herrschaft geben?“

Körperkonservierung verdrängte die weltanschaulich korrekte Körpervernichtung qua Verbrennung jedoch nur in diesem singulären Fall. Für das ordinäre Parteivolk wurde die Feuerbestattung als „progressive Bestattungsform“ propagiert. Und seit Oktober 1927, als Moskau ein modernes Krematorium erhielt, auch eifrig praktiziert. Mit feinem Gespür für die Symbolik hält Uhrig fest, daß die Anlage ins orthodoxe Donskoi-Kloster eingefügt wurde. Die Umwandlung eines geweihten Ortes in ein Krematorium sei eine bewußte Provokation der griechisch-orthodoxen Kirche gewesen, die die Feuerbestattung stets verurteilt hatte. Die Öfen für das neue Krematorium, wo auch die Leichen aus den Tscheka-Mordkellern verbrannten, lieferte übrigens die Firma Topf & Söhne aus Erfurt, deren Erzeugnisse später in der Todesfabrik Auschwitz zum Einsatz kamen.

Ausgehend von dieser makaberen Thematik strebt Uhrig einen Vergleich des sowjetischen und des nationalsozialistischen totalitären Systems an. Die Gemeinsamkeit sieht er in der „nekrophilen Grundeinstellung“, einer psychischen Störung, an der rote wie braune Eliten gelitten hätten. Der Begriff Nekrophilie trifft die Beziehung beider Führungsgruppen zum Tod jedoch nicht richtig, ist doch Nekrophilie definiert als „abartiges, auf Leichen gerichtetes sexuelles Triebverlangen, sexuelle Leichenschändung“. 

Wie Uhrig am Beispiel des fürchterlichsten Schlächters des bolschewistischen Polyphems, dem des obersten NKWD-Henkers Wassili Blochin, dessen tausendfach persönlich ausgeführte Morde – unter anderem auch an seinen beiden in Ungnade gefallenen Chefs der stalinistischen Mordmaschinerie Genrich Jagoda (1938) und Nikolai Jeschow (1940) – mit allen grausamen Facetten schildert, ist bei dem aber alles andere als Liebe zu Leichen im Spiel. Sondern, wie der Autor leider allzu beiläufig bemerkt, die „pathologische Lust am Zerstören biologischer Strukturen“ menschlicher Körper, die für Blochin nichts als blutige Materie seien. Eine Obsession, die die auffällig einhergehe mit der „krankhaften Verehrung“ anorganischer Werke der Technik oder Architektur. Nicht in gestörter Kollektivpsyche, sondern in einer Ideologie, die bereit ist, über den alten, biologisch determinierten, religiös-metaphysisch eingesponnenen Menschen hinwegzuschreiten, liegt also die Verwandtschaft zwischen dem unter dem Regime der Machenschaften (Martin Heidegger) geeinten Sowjetkommunismus, dem Nationalsozialismus und dem angelsächsischem Kapitalismus. 

Max-Rainer Uhrig: Der rote Styx. Zur Kultur und Unkultur des Todes im Marxismus-Leninismus und Nationalsozialismus. Ergon Verlag, Würzburg 2022, gebunden, 245 Seiten, Abbildungen, 49 Euro