© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Der Russenukrainer
Vor vierzig Jahren starb der langjährige KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew / Die Stagnation prägte zuletzt seine Ära
Jürgen W. Schmidt

Am 10. November 1982 spielte der sowjetische Rundfunk ohne Erklärung den ganzen Tag getragene Trauermusik und das sowjetische Fernsehen änderte sein Programm und sendete klassisches Ballett sowie Kriegsfilme. Lebenserfahrene Sowjetbürger ahnten sogleich, daß dies mit dem Tod des zunehmend krank und hinfällig wirkenden, seit 1964 im Amt befindlichen KPdSU-Generalsekretärs Leonid Breschnew zusammenhängen könne. Breschnew war noch zu Zeiten des Zaren, am 19. Dezember 1906 in der ukrainischen Stadt Kamenskoje (1936 bis 2016 Dneprodserschinsk) als Sohn einer russischen Arbeiterfamilie, die auf der Suche nach Arbeit in die Ukraine gezogen war, zur Welt gekommen. Nichts deutete bei dem armen Arbeiterjungen darauf hin, daß er dereinst zum allmächtigen KPdSU-Generalsekretär avancieren sollte. 

Der junge Leonid war damals nämlich nichts weniger als ein Ideologe, begeisterte sich für Taubenzucht sowie Schauspielkunst und absolvierte als erstes eine landwirtschaftliche Fachschule. Dadurch wurde der frischgebackene Flurordner im Uralgebiet allerdings direkt bürokratischer Exekutor der Stalinschen Kollektivierungspraxis, die gerade in der Ukraine, wo das junge KPdSU-Mitglied ab 1931 ein Ingenieurstudium der Metallurgie aufnahm, in die Hungerkatastrophe der dreißiger Jahre führte. Nach Absolvierung des Studiums war Breschnew in der Lehrausbildung und als Industriefunktionär tätig und geriet mehr oder weniger ungewollt in die Laufbahn eines zuerst mittleren, dann höheren Parteifunktionärs. Der junge Breschnew hatte damals durchaus Macherqualitäten und pflegte zudem einen sehr leutseligen Umgang mit den einfachen Menschen. Als regionaler Parteifunktionär in der Ukraine überstand Breschnew die Zeit der Stalinschen Säuberungen und bewährte sich bei Kriegsausbruch 1941 bei der Evakuierung von Rüstungsbetrieben vor den deutschen Truppen. Als Politoffizier lernte er danach den späteren ukrainischen KP-Chef Nikita Chruschtschow kennen, der seinen Weg ins ZK und später gar ins Politbüro begleitete. 

Breschnew war mehr Pragmatiker als kommunistischer Ideologe

Breschnew kamen dabei seine männliche Ausstrahlung, sein gutes Aussehen und seine stets modebewußte Art, sich zu kleiden, entgegen. Aus der durchlebten Stalinschen Periode hatte er die persönliche Schlußfolgerung gezogen, daß man Kader planmäßig entwickeln müsse und stete Drohungen mit Genickschuß kontraproduktiv seien. Der marxistischen Ideologie stand Breschnew zwar mit gebührendem Respekt gegenüber, überließ sie aber lieber den hauptamtlichen Parteiideologen um Michail Suslow. Dafür begann er sich zunehmend für Außenpolitik zu interessieren und pflegte später Männerfreundschaften mit Richard Nixon, Georges Pompidou und Willy Brandt.

Auch zögerte Breschnew nicht, den in der sowjetischen Nomenklatura durch seine Selbstherrlichkeit und seine beständigen Personalrochaden unbeliebt gewordenen Generalsekretär Chruschtschow 1964 zu entmachten und danach eigene Klientelnetzwerke innerhalb der Partei zwecks Machterhalt zu bilden. Die schwache Seite von Breschnew, der gemäß russischen Historikern tatsächlich im Innern der Sowjetunion den Lebensstandard beträchtlich anheben und außenpolitisch eine Friedensordnung installieren wollte, war seine mit den Jahren zunehmende Tablettensucht. Dadurch mutierte der einst kräftige und lebenssprühende Generalsekretär zunehmend zu einem körperlichen Wrack. Seine letzten Amtsjahre ab 1975 sind deshalb in Rußland heute eher als „Epoche der Stagnation“ verschrien. Das unter Breschnew auf strikten Konsens gebürstete Politbüro wagte keinerlei Initiativen ohne Zustimmung des Generalsekretärs, und dieser wollte nur noch seine Ruhe und pflegte mit zunehmend kindisch wirkender Eigensucht seine persönliche Ruhmbegierde. 

Der einstige Politoffizier und zuletzt Oberst im Zweiten Weltkrieg ließ sich gleich mehrfach die höchsten sowjetischen Orden verleihen und beförderte sich sogar selbst zum Marschall. Der Konsequenzen des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan 1979 scheint sich Breschnew in seiner körperlichen wie geistigen Schwäche nicht mehr bewußt gewesen zu sein. Damit legte er selbst die Axt an die Wurzel der Existenz der Sowjetunion. Wäre Breschnew nämlich 1976, wie er selbst kurzzeitig andachte, freiwillig als Politiker zurückgetreten, hätte er sogar mit einer gewissen Erfolgsbilanz abgeschlossen. Hinzu kam, daß Breschnew mit seiner Familie nicht viel Glück hatte, wobei seine Leibwächter und sein sonstiges Dienstpersonal für ihn immer mehr zur Ersatzfamilie wurden. Der Sohn Juri trank übermäßig, die Tochter Galina hingegen beschäftigte sich mit zweifelhaften Geschäften und pflegte zwielichtige Männerbekanntschaften. Im Politbüro wählte man im November 1982 anstelle von Breschnews Wunschnachfolger Wladimir Schterbitzki, damals KP-Chef in der Ukraine, lieber den tatkräftigen, doch bereit todkranken Geheimdienstchef Juri Andropow zum neuen KPdSU-Generalsekretär. Vor den politischen und wirtschaftlichen Wirren der Perestroikazeit unter Gorbatschow und der daran anschließenden schlimmen Jelzin-Periode erscheint vielen Russen die lange Regierungsperiode von Breschnew, zuletzt von Protektionswirtschaft und Stagnation auf allen Gebieten geprägt, trotzdem als eine Art „Goldenes Zeitalter“, in welchem das Leben noch berechenbar und vor allem bezahlbar war.

Foto: Leonid Breschnew beim Besuch von Bundeskanzler Willy Brandt auf der Krim 1971: Der sowjetische Staatschef hat System der Drohungen mit Genickschuß als kontraproduktiv erachtet