© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Rückruf zur Geopolitik
Martin Grosch liefert eine Art Handbuch der außenpolitischen Herausforderungen der Gegenwart und hofft darauf, daß die EU und Deutschland endlich aufwachen
Michael Wiesberg

Geopolitische Fragen erfreuen sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges auch in Deutschland wieder eines steigenden Interesses. Ungeachtet dessen kommt Martin Grosch, der Autor des hier anzuzeigenden Buches, zu dem Befund, daß Geopolitik „in weiten Kreisen in Deutschland nach wie vor nicht salonfähig“ sei. Es sei daher nicht verwunderlich, daß die Bundesrepublik „nicht ernstgenommen“ werde. Ob hierfür immer noch die Nachwirkungen der Instrumentalisierung der Geopolitik durch die Nationalsozialisten verantwortlich ist, wie Grosch vermutet, muß an dieser Stelle dahingestellt bleiben. 

Mittlerweile gibt es in Deutschland wieder ernstzunehmende geopolitische Analysen zu lesen, die politische Entscheidungsträger zur Kenntnis nehmen könnten, wenn sie denn nur wollten. Der eigentliche Grund dürfte also nicht mehr in der NS-Zeit zu suchen sein, sondern in der anhaltenden Abneigung der bundesdeutschen classe politique, überhaupt nationale Interessen, die nach wie vor auf geopolitischen Imperativen fußen, zu artikulieren und zur Grundlage der eigenen Politik zu machen. Diese Sichtweise wird durch das im Buch enthaltene Interview vom Februar 2021 mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Franz J. Jung (CDU) unterstrichen. Zu spüren ist das Bemühen Jungs, ja nichts „Verfängliches“ zu äußern. Was seine Amtsnachfolgerinnen Ursula von der Leyen (CDU) oder aktuell Christine Lambrecht (SPD) über geopolitische Fragen denken, malt man sich besser nicht aus. 

Grosch, Jahrgang 1969 und derzeit als Pressestabsoffizier zum Landeskommando Hessen beordert, liefert das ab, was man als grundständige Arbeit bezeichnet. Seine tour d’horizon eröffnet er mit einer begrifflichen Präzisierung dessen, was unter Geopolitik verstanden wird und leitet dann zu den wichtigsten Theoretikern vor 1945 über. Hier spannt er den Bogen von Rudolf Kjellén (Seite 14) – er prägte den Begriff Geopolitik – bis hin zu Alfred T. Mahan. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges spielen deutsche geopolitische Theoretiker keine Rolle mehr, was angesichts der jahrzehntelangen Stigmatisierung der Geopolitik nach 1945 nicht weiter verwundert. Der „Doyen der deutschen Geopolitik“, Karl Haushofer, steht bis heute – weitgehend zu Unrecht – in dem Ruch, Hitler die Ideen für dessen Expansionspolitik geliefert zu haben. 

Es war aber sicherlich nicht nur diese Stigmatisierung, die in Deutschland für einen bis heute spürbaren Einschnitt in der geopolitischen Theoriebildung sorgte, sondern auch der Kalte Krieg und die Spaltung der Welt in zwei Machtzentren, deren Agieren alle geopolitischen Fragen überschattete. Erst nach der Wende 1989/90 und nach einer kurzen Phase, in der den Illusionen einer globalen „Netzwerkgesellschaft“ (Manuel Castells) gehuldigt wurde, bestimmen wieder Vertreter klassischer Geopolitik das Bild, wie beispielsweise in Gestalt von Zbigniew Brzeziński, Henry Kissinger oder, wenn auch nicht „lupenrein“ klassisch, Samuel Huntington, auf die Grosch ausführlich eingeht. 

Der Kampf um Wasser und Energieressourcen wird zunehmen

Nach dieser Skizze zur Geschichte geopolitischen Denkens kommt Grosch auf die wesentlichen geopolitischen „Themen und Untersuchungsaspekte“ zu sprechen. Hier schlägt er den Bogen von der Lage, dem Klima, über die Bodenschätze bis hin zum Meer und vor allem zu den demographischen Entwicklungen, hier vor allem mit dem Fokus auf die Probleme regionaler Überbevölkerung, wie sie beispielsweise in Afrika zu beobachten sind. 

An diese raumbezogenen Analysen anknüpfend, entwickelt Grosch die hieraus resultierenden Konfliktfelder der Gegenwart. Ins Auge fällt, wie oft die „Lebensgrundlage Wasser“ eine zentrale Rolle spielt, sei es nun mit Blick auf Tibet, dem „Wasserturm Chinas“, auf Israel oder auf Äthiopien und Ägypten und deren Auseinandersetzungen um die Nutzung des Nils. Nicht zuletzt deshalb entwickeln sich Konflikte um Anbauflächen und damit um die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Im Weiteren kommt Grosch auf die Rolle der Energieversorgung, Rohstoffe oder Migration und deren geopolitische Bedeutung zu sprechen, die auch für Deutschland eine existentielle Rolle spielen. 

Nicht viel Neues bietet Groschs Kapitel über die Jugoslawienkriege, das verzichtbar gewesen wäre. Um so erhellender sind seine faktengesättigten Analysen geopolitisch wichtiger Staaten und Regionen, wobei sich sein Bogen über China, Indien/Pakistan, Rußland, den Nahen Osten, die Türkei bis hin nach Afrika spannt. Hier gibt es einiges zu lernen, was gegenwärtige Konfliktlagen zum Teil in einem neuen Licht zeigt. 

Wenig überraschend fallen Groschs Ausführungen zur EU und speziell zu Deutschland ernüchternd aus; der Autor spricht hier mit wünschenswerter Deutlichkeit von geopolitischer Inexistenz. Es hat beinahe etwas Rührendes, wenn Grosch in Richtung EU – und damit auch Deutschland – appelliert, man müsse „endlich aufwachen und die real- und geopolitischen Fakten erkennen und adäquate Antworten darauf finden“. Der Autor ist der Meinung, daß die „Aggression Rußlands in der Ukraine“ ein „klares Umdenken herbeigeführt“ habe. Skepsis ob der Nachhaltigkeit dieses „Umdenkens“, sofern es sich nicht sowieso in „Zeitenwende“-Geraune erschöpft, ist gerade mit Blick auf die deutsche Politik angebracht. Trotzdem kommt Groschs Buch das Verdienst zu, eine solide Einführung in aktuelle geopolitische Herausforderungen zu bieten, die in der Tat für sich reklamieren kann, eine „Art Handbuch“ zu sein. Es bleibt zu hoffen, daß dieses Buch insbesondere in den Reihen deutscher „Entscheidungsträger“ seine Leser findet. Dies zu hoffen setzt eingestandenermaßen eine gehörige Portion Optimismus voraus. 

Martin Grosch: Geopolitische Machtspiele. Wie China, Rußland und die USA sich in Stellung bringen und Europa immer stärker ins Abseits gerät. Lau Verlag, Reinbek 2022, broschiert, 339 Seiten, 28 Euro