© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Frisch gepreßt

Landnahme. Auch kosmopolitische Eliten, jene „Anywheres“, die auf die grenzenlose Einheit der Menschheit hinarbeiten, unterscheiden streng zwischen Außen und Innen. Ist doch ihr wichtigstes Machtmittel, das angeblich barrierefreie Internet, das die Einheit des Globus vermitteln soll, durch die digitalen Brandmauern der „Firewalls“ gegen das Eindringen viraler Banditen in die Netze geschützt. Auch der Mensch des digitalen Zeitalters kann sich also nicht von einer anthropologischen Konstante lösen, die für den Bibliothekar Uwe Jochum den Gang der Weltgeschichte bestimmt: Immer waren menschliche Siedlungsräume kleine und gefährdete Inseln der Zivilisation, die gegen Störenfriede behauptet werden mußten. Immer brodelte es „da draußen“ und baute sich Druck auf, der stets so stark wird, daß „etwas Wildes die Gartenmauer überspringt und in unsere feinmaschig gewebte Kulturzone eindringt, wo alsbald kein Stein mehr auf dem andern bleibt“. Wie Jochums kulturhistorischer Streifzug zeigt, ist eine Welt in Grenzen daher die „Bedingung der Möglichkeit für ein menschengerechtes Leben“. Der von Kosmopoliten erträumte  „Weltstaat“ ohne Binnengrenzen hingegen würde die humanen Austauschprozesse und damit die menschliche Zivilisation auf der Erde beenden. (wm)

Uwe Jochum: Landnahme. Ein Essay. Karolinger Verlag, Wien 2022, gebunden, 125 Seiten, 19,90 Euro





Prachtboulevard. Es wird noch ein Weilchen dauern, bis der Berliner Prachtboulevard „Unter den Linden“ seinen Namen wieder rechtfertigen wird. Denn in den vergangenen Jahren mußten durch diverse Baumaßnahmen – allem voran die neue U-Bahn – viele der namensgebenden Bäume entfernt werden. Doch nun wurden bereits wieder junge Linden gesetzt und der Mahnung des Theologen Richard Schröder („Ohne das Schloß ist die Straße Unter den Linden wie ein Witz ohne Pointe“) entsprochen, um mit dem Bau des Humboldt-Forums einen optisch angemessenen Abschluß der Sichtachse vom Brandenburger Tor zu finden. Erwin Seitz hat nun einen biographischen Spaziergang mit diversen historischen Episoden über die Berliner Achse angestellt. Dabei ist seine Absicht schnell spürbar, „eine bürgerlich-zivile Persektive“ einzunehmen, die „das Säbelrasseln, das die Straße früher zur Genüge erlebt hat“, beiseite zu lassen. Dafür konnte Seitz als Gastrokritiker nicht aus seiner Haut, um in der kulturgeschichtlichen Bestandsaufnahme die vielen Hotels und Gastronomiebetriebe seit Kaisers Zeiten zwischen Adlon und dem Kronprinzenpalais besonders in den Fokus zu nehmen. (bä)

Erwin Seitz: Unter den Linden. Biografie eines Boulevards. Insel Verlag, Berlin 2022, gebunden, 239 Seiten, 20 Euro