© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Komplexe Verflechtungen
In einer warmen Klimaphase entdeckten die Wikinger Amerika / Natürliche Abhängigkeiten
Christoph Keller

Zu der noch bis 18. November laufenden UN-Klimakonferenz (COP 27) in der ägyptischen Touristenstadt Scharm El-Scheich reist die „Fridays for Future“-Gründerin Greta Thunberg aus dem hohen Norden nicht an. Das dürfte die 30.000 Teilnehmer aus aller Welt, die dort hinfliegen, aber kaum stören. Die mediale Aufmerksamkeit ist ihnen dennoch gewiß, geht es doch um nichts weniger, als die gemessene globale Klimaerwärmung durch „radikale Maßnahmen“ und Milliarden aus den reichen Ländern auf 1,5 Grad zu begrenzen. Allerdings hat sich seit diesem Beschluß vom COP-21-Treffen 2015 in Paris nichts Wesentliches verändert. Und ob sich das Klima im Jahr 2100 tatsächlich prognostizieren läßt, daran mögen viele zweifeln.

Wesentlich mehr Vertrauen in ihre Aussagen haben sich jene Klimaforscher erworben, die nicht hundert Jahre voraus in die Zukunft, sondern die tausend Jahre zurück in die Vergangenheit blicken. Im interdisziplinären Verbund geistes- und naturwissenschaftlicher Fächer ist die Klimatologie daher am großen Aufschwung erheblich beteiligt, den die Umweltgeschichte seit den 1990ern genommen hat. Mit solchen erstaunlichen Forschungsresultaten, die ungeahnte Einblicke in die komplexen Verflechtungen von Klima und Geschichte ermöglichen, wartete vor kurzem der Umweltsystemforschung in Cambridge lehrende Geograph Ulf Büntgen auf. Die gekürzte deutsche Fassung dieser an der Schnittstelle von Archäologie, Dendrochronologie, Klimatologie und Physik operierenden Forschungen zur mittelalterlichen transatlantischen Seefahrt präsentierte Büntgen unlängst in der Naturwissenschaftlichen Rundschau (8/22).

Damit knüpft der auch an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft und an der Masaryk-Universität im mährischen Brünn tätige Wissenschaftler an eine inzwischen zum Allgemeinwissen gehörende historische Tatsache an: daß die Wikinger den Nordatlantik bereits 471 Jahre vor Christoph Kolumbus überquerten und ihre ersten Siedlungen auf Neufundland errichteten. Doch so bekannt wie diese frühe Entdeckung Amerikas seit 1961 ist, als die Wikingersiedlung L’Anse aux Meadows an der Nordspitze Neufundlands archäologisch erstmals gründlich untersucht wurde, so unbekannt sind die Umstände, die den gefährlichen Sprung dieser in Dänemark, Norwegen und Schweden beheimateten Krieger über den Atlantik begünstigten.

Ungeahnte Einblicke in die Entdeckungsgeschichte

Ausgangspunkt für Büntgens Rekonstruktion dieser Umstände war eine präzise Datierung des Siedlungsbeginns auf Neufundland. Dies gelang 2021 anhand von Radiokohlenstoff- und Jahrring-Messungen der Holzfunde in L’Anse aux Meadows. Die neuen, zeitlich hochaufgelösten 14C-Analysen der Alpha-Zellulose von Holzproben aus dieser Grabungsstätte erlaubten eine alle früheren Datierungsversuche an Genauigkeit weit übertreffende Altersbestimmung. Demnach wurde die Siedlung exakt im Jahre 1021 n. Chr. angelegt. Büntgen sieht darin eine Sternstunde der Wissenschaft, da die Auswertung von 60 Jahre altem Probenmaterial eher selten geschieht. Denn nur wenige Universitäten und Forschungsinstitute verfügen über ausreichende Ressourcen, um Holz- und Umweltproben sachgerecht aufzubewahren. Wären auch die neufundländischen Proben verrottet, hätte es nicht die Chance gegeben, Weiterentwicklungen in der Massenspektrometrie, kosmische Strahlungsereignisse in 774 und 993 n. Chr. sowie generelle Verbesserungen der Altersbestimmung durch Radiokohlenstoff-Messungen zu testen und für Forschungsprojekte zu nutzen.

Dank der exakten Datierung auf 1021 n. Chr. konnte die mittelalterliche Seefahrt im Atlantik im Kontext natürlicher Umweltarchive diskutiert werden. Besonders eindrücklich sei dabei der Vergleich mit jährlich aufgelösten und absolut rekonstruierten, auf Tausenden von Jahrringmessungen basierenden Temperaturrekonstruktionen ausgefallen, die 2.000 Jahre lückenlos abdecken. Daraus ergibt sich, daß die Wikinger ihre transatlantische Überquerung zwischen Grönland und Neufundland im wärmsten vorindustriellen Sommer der letzten 1.000 Jahre wagten. Die Juni-August-Temperatur im Jahr 1020 n. Chr. lag 0,750 Celsius höher als das Mittel der modernen Referenzperiode von 1961 bis 1990. Weiter ist nunmehr klar, daß die Besiedlung Grönlands durch die Wikinger im späten 10. Jahrhundert während des wärmsten Jahrzehnts des Mittelalters erfolgt ist. Das Jahr 990 n. Chr. hatte mit +1,22 Grad Celsius den wärmsten Sommer der letzten 2.000 Jahre. Zudem fiel die erste Besiedlung der Färöer-Inseln durch die Wikinger in die Jahre um 825 n. Chr., also nur kurz nach Beginn des „Wikinger-Zeitalters“ in den 790ern, als besonders hohe Temperaturen über dem Nordatlantik und über Europa herrschten.

Aus diesem Kontext folgert Büntgen: „Die Abfolge besonders milder Bedingungen im Mittelalter hat höchstwahrscheinlich die transatlantische Navigation durch veränderte Lichtreflexion und verbesserte Sichtbarkeit von kleinen Inseln erleichtert.“ Ferner sei zu berücksichtigen, daß dieses mittelalterliche Klimaoptimum zum Teil auch durch das zwischen dem frühen 8. und dem 12. Jahrhundert dokumentierte Ausbleiben extraordinärer Vulkanausbrüche ausgelöst wurde. Während der so entstandenen Warmphase zeitigten selbst die Eruptionen der isländischen Vulkane Katla und Bárðbunga sowie die des Mount Churchill in Alaska nur geringe klimatische Auswirkungen.

Wohingegen der langandauernde und sulfatreiche Ausbruch des isländischen Vulkans Eldgjá (939/940 n. Chr.) zwar zu einer starken mehrjährigen Sommerabkühlung der gesamten Nordhemisphäre führte, die aber um 870 n. Chr. milderen Temperaturen wich, pünktlich zu Beginn der isländischen Landnahme der Wikinger. Ob auch die Konvertierung der Isländer zum Christentum im Jahr 999/1.000 n. Chr. durch die erschütternde Erfahrung der gewaltigen Eldgjá-Eruption mitbeeinflußt wurde, bliebe noch zu erforschen.

Überwindung bestehender Denkmuster und Disziplingrenzen

Die Rekonstruktion und Interpretation der Wikinger-Feldzüge in Europa und über den Nordatlantik, so lautet Büntgens Zwischenbilanz, verdeutliche vier Grundprinzipien moderner Paläo-Umweltforschung: „Langfristige, nachhaltige Lagerung und Archivierung physischer Proben und deren Metadaten, stetige Verbesserung ehemaliger Datierungen, Überwindung bestehender Denkmuster und Disziplingrenzen sowie bedingungslose Hinterfragung etablierter Paradigmen.“ Werden diese einfachen Handwerksregeln beachtet, kann die historische Umweltforschung der ökologischen Aufklärung des Menschen über seine natürlichen Abhängigkeiten dienen.

„Evidence for European presence in the Americas in AD 1021“:

 nature.com

 www.geog.cam.ac.uk

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