© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/22 / 11. November 2022

Der Flaneur
U-Bahn mit Sitzecke
Paul Meilitz

Bis dahin war es ein üblicher Mittwochnachmittag. Dachte ich jedenfalls. Bis ich versuchte, eine stark frequentierte Linie der U-Bahn in der deutschen Hauptstadt zu besteigen. Der Kurztrip entwickelte sich zu einer kabarettreifen Mischung aus einem bizarren und einem realen „Event“, ein Mittelding zwischen Traum und Wirklichkeit. 

Die U-Bahn war kaum zum Halten gekommen, als junge Männer südländischer Herkunft nach ein paar energischen Gesten in Richtung Fahrpersonal eine Tür im letzten Wagen in Beschlag nahmen. Zwei Neubürger blockierten den Schließmechanismus, während zwei Helfer ein sehr großzügig bemessenes Sitzmobiliar in Richtung Einstieg wuchteten. 

Die taubenblaue Couch war noch in Folie eingeschweißt, verfügte auf der einen Seite über zwei, auf der anderen Seite über einen Sitzbereich und schien im nahen „Center“ soeben käuflich erworben zu sein. 

Damals tauchten Mitarbeiter mit roten Mützen und in blauer Uniform auf dem Bahnsteig auf.

Dort, aber wohl nicht nur dort, waren die jungen Käufer scheinbar unzureichend über hiesige Gepflogenheiten und Regelwerke beraten worden. Versuch macht jedoch klug, und tatsächlich bugsierten die innovativen Spediteure ihr Frachtgut in den Schlußwagen. Das für die Abfertigung verantwortliche Personal im ersten Wagen  hielt still und ließ die Verladung zu. 

Was sollte es sonst tun? Toleranz und Gastfreundlichkeit werden auch den Angehörigen öffentlicher Verkehrsbetriebe in Dauerschleife eingebleut, und jeder Ausrutscher auf diesem Glatteis kann unter Umständen den Job kosten. Im Zweifel für den Regelverletzer. 

Ich sehnte mich nach Zeiten zurück, als auf Bahnsteigen noch richtige Menschen für die Einhaltung der Betriebsvorschriften sorgten, den Verkehr mit Originalstimme abfertigten und für ein wohltuendes Sicherheitsgefühl Sorge trugen. 

Dabei tauchten Frauen und Männer mit roten Mützen, einer blauen Uniformjacke, einem respektvollen und souveränen Erscheinungsbild und einer Alternative jenseits computergenerierter Sprechblasen in meiner Erinnerung auf. Höchstens eine kleine Pflanze, eine Stehlampe oder ein Klappstuhl hätten es an ihnen vorbei in die U-Bahn geschafft.