© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Russischer Rückzug aus Cherson
Autorität steht auf dem Spiel
Thomas Fasbender

Der russische Rückzug vom Westufer des Dnjepr ist eine Zäsur. Die nächste Niederlage, etwa ein erfolgreicher Vorstoß der Ukrainer bei Saporischschja im Süden des Landes, könnte das Ende der von Rußland besetzten Landbrücke zur Halbinsel Krim bedeuten. Man darf erwarten, daß die angelsächsischen Berater in den ukrainischen Divisionsstäben zu weiteren Offensiven drängen – solange das herbstliche Wetter anhält. Im Umfeld des Moskauer Kreml vertieft sich derweil der Spalt zwischen Pragmatikern und Patrioten. Am Wochenende hat ein prominenter Vordenker der Nationalisten, der orthodoxe Philosoph Alexander Dugin, den Präsidenten mit einem afrikanischen „Regenkönig“ verglichen, der abgesetzt und getötet wird, wenn es trocken bleibt. Dugin ist inzwischen zurückgerudert und spricht von einer Fiktion des Westens, doch der Eindruck haftet: Putin verliert an Autorität.

Verliert er auch an Macht? Nicht unbedingt. Keine der Fraktionen in der politischen Elite kennt einen Königsweg. Es gibt auch keine Friedenspartei. Das hat damit zu tun, daß in diesem Krieg nicht nur um ukrainisches Territorium gefochten wird. Die Auseinandersetzung ist eine (durchaus willkommene) Generalabrechnung mit dem Westen, seiner Weltanschauung, seinen Werten und seiner Ordnung. Zudem entspricht es nicht der russischen Tradition, nach Rückschlägen den Oberbefehlshaber auszutauschen. Putins Krieg kann noch lange dauern.