© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

„Man kann nichts mehr sagen“
Bedroht und verfolgt: Sie ist eine der weltweit bekanntesten Islamkritikerinnen – die Frauenrechtlerin, Publizistin und Politologin Ayaan Hirsi Ali warnt vor der „verrückten Ideologie“ des Wokeismus und daß der Westen künftig „zur neuen Heimat der radikalen Islamisten“ wird
Collin McMahon

Frau Hirsi Ali, Sie haben 2006 Ihr Mandat im niederländischen Parlament verloren, da sie bei Ihrem Asylantrag falsche Angaben gemacht hatten. Heute, sechzehn Jahre später, erscheint das als Lappalie. Niemand wird mehr sanktioniert, weil er falsche Daten angibt, seinen Paß wegwirft oder durch sichere Drittstaaten eingereist ist. Wie wirkt das auf Sie?

Ayaan Hirsi Ali: Das war in gewisser Weise eine Zeit der Unschuld. Damals herrschte – zumindest in Holland – das Gefühl, die Amerikaner seien an den Anschlägen vom 11. September 2001 irgendwie selbst schuld – das habe mit uns nichts zu tun. In Europa redeten wir uns ein, daß wir gewaltfrei aus der Sache rauskämen, daß man nur mit den Islamisten sprechen müsse, dann würden sie schon zur Vernunft kommen. Es war eine Zeit von großem Optimismus und großer Naivität. 

Auch was Sie selbst angeht?

Ali: Nein, ich habe stets gewarnt: Ihr versteht nicht, was da auf euch zukommt! Und bei meinem Asylantrag mußte ich lügen, denn hätte ich gesagt, daß ich vor einer Zwangsehe fliehe, wäre er abgelehnt worden. Also erzählte ich die Geschichte, die man hören wollte, das war so üblich. Die Asylanwältin einer Menschenrechtsgruppe bereitete mich vor, was sie mich fragen würden und was ich antworten solle. Ich wollte nicht, daß mich meine Familie ausfindig macht. Also habe ich Ali – den richtigen Namen meines Opas – angegeben, nicht Magan, den Spitznamen, den meine Familie verwendet, sowie 1967 als Geburtsjahr. Das nahm Asyl- und Integrationsministerin Rita Verdonk zum Anlaß, mir die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, woraufhin ich als Parlamentsabgeordnete zurücktreten mußte. Letztlich führte das zu einer Staatskrise. Die Regierung stürzte, die Ministerin verlor ihr Amt, und ich bekam den niederländischen Paß zurück. 

Hat sich Frau Verdonk jemals bei Ihnen entschuldigt?

Ali: Nein. Politiker tun manches nur, weil sie hoffen, gewählt zu werden. Vielleicht hätte sie sich entschuldigt, wenn sie gewonnen hätte, aber es kam ganz anders für sie: Sie kandidierte gegen den jetzigen Premier Mark Rutte, wie sie Mitglied der rechtsliberalen VVD, und hoffte wohl, sich als in Migrationsfragen besonders streng zu profilieren und sagte: „Regeln sind Regeln! Wer dagegen verstößt, wird bestraft.“ Sie wollte etwas Dramatisches inszenieren, scheiterte aber: Ich bekam die Staatsbürgerschaft wieder, und sie ist nicht mehr in der Politik.

Das war der Grund, aus dem Sie in die USA gegangen sind, richtig?

Ali: Ja, und die Intensität der Gefahr für mich damals. Die Niederlande sind ein sehr kleines Land.

Wie haben Sie die USA im Vergleich zu Europa erlebt?

Ali: Als ich 2006 ans American Enterprise Institute kam, war George W. Bush US-Präsident. Ich freundete mich mit Christopher Hitchens, Sam Harris und Salman Rushdie an, war in New Yorker Literatur- und in politischen Kreisen in Washington unterwegs. Es war wie eine Befreiung, nach Amerika zu kommen, denn nichts war tabu. Man konnte sagen und schreiben, was man wollte. Rushdie und ich haben uns immer wieder darüber unterhalten, wieviel freier das Meinungsklima verglichen mit Europa war. Doch hat sich das nun geändert, denn heute herrscht dort eine neue Ideologie – die eigentlich gar nicht so neu ist: die postmoderne Ideologie des Wokeismus. Man kann nichts mehr sagen, ohne gecancelt zu werden und Job und Freunde zu verlieren. Sogar in den USA ist das Klima also intoleranter und dogmatischer geworden. 

Haben Sie Hoffnung?

Ali: Hoffnung muß man immer haben. Für mich liegt sie darin, daß der Wokeismus ebenso eine Sackgasse ist wie der Islamismus. Beide haben keine Zukunft, keine Verheißung. Sie spalten die Gesellschaft nach Rasse und Geschlecht, als wäre das ein Nullsummenspiel. Das ist reiner Nihilismus.

Der bekannte niederländische Islamkritiker Geert Wilders schreibt in seiner Biographie über ihre gemeinsame Zeit in der VVD, als ob sie damals beste Freunde gewesen wären. Sie aber erwähnen ihn nie. Woran liegt das?

Ali: Wir gehörten 2003 derselben Partei an, waren also in derselben Mannschaft. Er war damals noch im Mainstream, in der Mitte der Gesellschaft. Seitdem aber hat er den Mainstream verlassen und wurde sein eigener Mann. Ich will damit nicht sagen, daß er ein Extremist ist. Aber er ist ein bißchen zum Einzelkämpfer geworden, in einem Land, in dem man Koalitionen und Konsens bilden muß, wenn man etwas erreichen will. Ich weiß also nicht, ob Geert Wilders jemals die Art politische Veränderung erreichen wird, die ihm vorschwebt. Das ist wohl der Grund, warum wir den Kontakt nicht aufrechterhalten haben.

Sie müssen vorsichtig sein, mit wem Sie sich einlassen?

Ali: Geert Wilders ist dämonisiert worden. Ich glaube nicht, daß er ein Menschenfeind ist. Manchmal verschreckt er Leute mit seiner Wortwahl. Im Wahlkampf hat er gefragt: „Wollt ihr mehr Marokkaner oder weniger?“ Das fand ich verantwortungslos. Aber er liebt die Niederlande wirklich. Er ist der fleißigste Politiker, den ich kenne, er macht nichts anderes außer zu arbeiten. Seit 2004 steht er unter Polizeischutz, denn bis heute ist er in Todesgefahr. Er muß sein Leben diesem unglaublichen Sicherheitsprotokoll unterwerfen. Das Establishment hat ihn völlig verteufelt, ihn mit Hitler, Mussolini und den schlimmsten Ungeheuern der Menschheit verglichen. Das ist schlimmer als alles, was Geert je getan hat. Aber so ist das heute: Das Establishment versucht nicht, die Bürger durch die besseren Ideen zu überzeugen, sondern verteufelt den Gegner. Und das passiert nun auch in den USA.

Motto: „Wer Trump wählt, ist ein weißer Nationalist!“

Ali: Genau. Es ist eine Art Kollektivwahn. Man nennt es das „Trump Derangement Syndrome“ (Trump-Umnachtungssyndrom) – das gibt es wirklich. Ich kenne kluge, wunderbare Menschen, die seit Trump komplett irre sind. 

Sie haben auf der von Ihnen mitveranstalteten Islam-Konferenz Anfang November in Salzburg (JF 45/22) darüber gesprochen, wie wichtig es ist, als politische Bewegung „eigene“ Medien zu haben. Denn das Problem sei, daß nur „rechte“ Medien entsprechend kritisch über den Islam schreiben, diese viele Menschen aber nicht erreichen – während die Mainstreammedien, die diese Reichweite haben, da zu unkritisch sind. 

Ali: Das ist genau das Problem und eine gigantische Herausforderung. Ich glaube, daß es etwa beim Brexit in erster Linie um Einwanderung ging. Die Briten hatten das Gefühl, nicht länger über ihr eigenes Land bestimmen zu können. Das beobachtet man in allen EU-Ländern. Sagt man den Wählern: Wir ignorieren die drängendsten Probleme unserer Zeit, zu denen der Islamismus zählt, dann treibt man die Wähler in die Arme von Populisten und Extremisten. Und das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. 

Was ist die Antwort?

Ali: Wir müssen die Mainstreammedien wieder dazu bringen, kritisch zu berichten. Der erste bekannte Islamkritiker in den Niederlanden, Pim Fortuyn, war homosexuell, ein Paradiesvogel, ein Sozialdemokrat. Er war weiter links als die Demokraten in den USA. Er war sehr wortgewandt und in keiner Weise ein Extremist. Aber er wurde von den Medien vollkommen verteufelt, da er es wagte, sich gegen das Establishment aufzulehnen. Als er 2002 ermordet wurde (Anm. von einem radikalisierten Grünen) haben sich die Medien sehr dafür geschämt, wie sie ihn behandelt haben und begannen, über Tabu-Themen wie Islam und Einwanderung zu berichten, über die Weigerung mancher Muslime, sich zu integrieren, die Abhängigkeit vom Sozialstaat, die hohe Verbrechensrate, die Grenzsicherung – all die Themen, die normalen Bürgern Sorgen machen, weil sie damit konfrontiert sind. Doch nach einer Weile hörten sie wieder damit auf, leider. Und jetzt haben wir den Wokeismus, jetzt ist das alles wieder tabu. Das Pendel ist zurück in die entgegengesetzte Richtung geschwungen.

Sie waren in jungen Jahren bei der Muslimbruderschaft. Wie kann man deren junge Mitglieder erreichen?

Ali: Als die Islamisten kamen, um uns zu verführen, besaßen wir keine Kritikfähigkeit. Sie konnten uns alles erzählen. Man sollte also damit anfangen, jungen Menschen beizubringen, Fragen zu stellen: Was wollt ihr mir verkaufen? Wie wird diese Utopie aussehen? Warum sprecht ihr für Gott? Denn die Muslimbrüder waren Erwachsene, mit unserer Heiligen Schrift, die bessere Moslems aus uns machen wollten, um uns vor Drogenabhängigkeit und Verwahrlosung zu bewahren. Anfangs ist das sehr verlockend. Erst später, wenn man Burka tragen muß, ohne männlichen Begleiter das Haus nicht verlassen und keine Fragen stellen darf, fühlt man sich immer mehr eingeschränkt. Da begann ich, mehr und mehr zu zweifeln. Ich bin ja von Natur aus rebellisch. Manche Leute aber mögen die Unterordnung, klare Schwarz-Weiß-Regeln. Um dem Islamismus zu begegnen, müssen wir verstehen, was ihn so verlockend macht, und wie wir unsere eigenen Ideen verlockender machen können. Wäre ich damals von klassischen Liberalen angesprochen worden, hätte ich mich vielleicht für sie entschieden. Aber es waren die Islamisten, die als einzige auf uns zukamen. Sie haben erst die Schulen und Moscheen übernommen, und dann die ganze Nachbarschaft.

Das war also eine neue Entwicklung?

Ali: Ja, im Somalia der 1970er und Kenia der 80er Jahre gab es so etwas nicht. Ich weiß noch, wie ich in Kenia das erste Mal eine Frau in Burka sah. Die Islamisten standen stets in Gruppen, ließen sich Bärte wachsen und trugen Hochwasserhosen. Sie sahen seltsam aus, doch es hatte was, denn sie setzten sich damit ab. Man war entweder gegen sie – oder wollte zu ihnen gehören. Sie gaben uns zu essen, sie gaben uns ein Ziel. Es kamen sowohl Araber wie Iraner. Es war eine gezielte Aktion, und es ging sehr schnell. Innerhalb von fünf Jahren wurde unsere Nachbarschaft völlig verwandelt. Vorher sahen alle ganz normal aus, Frauen wurden nicht drangsaliert. Meine Mutter hatte immer etwas gegen kniefreie Röcke, aber nicht gegen ärmellose Kleidung und offene Haare. Und als ich begann, Burka zu tragen, fand sie es zuerst seltsam, doch dann sagte sie: „Ja, so sollte sich eine junge Frau kleiden.“ Vorher gingen wir auch nicht in die Moschee. Dort trafen sich nur die Männer, um Geschäfte zu machen. Doch auch das änderte sich schnell. Bald war es eine islamistische Moschee, wo die Imame Höllenfeuer predigten. Zuvor war es ein heruntergekommenes Gebäude, an dem die Farbe abblätterte. Dann wurde sie renoviert, ausgebaut, alles tipptopp mit teuren Teppichen und glänzenden Kacheln, und die Imame trugen nun arabische Kleidung. Und viele kamen, weil es dort etwas zu essen gab. Das Geld für all das kam aus dem Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sie überschütteten diese armen afrikanischen Länder regelrecht mit Geld.  

Und Sie glauben, Saudi-Arabien verändert sich jetzt?

Ali: Ja, und zwar wegen des IS. Denn viele IS-Führer waren Saudis, die in den Moscheen predigten, die Königsfamilie seien keine Moslems mehr. Da fühlte sich diese bedroht und wachte auf. Denn die Predigten kamen gut an – schließlich dürfen die Saudis keinen Alkohol trinken, Männer und Frauen keinen Umgang haben. Die Königsfamilie aber fliegt an die Riviera und macht all diese Dinge.

Klar, daß das Unmut erzeugt. 

Ali: Natürlich, damit konnte der IS punkten. Zudem hatte der IS im Irak und Syrien Eroberungen gemacht, und viele der repressiven arabischen Regime ahnten: Gute Güte, wir sind bald auch fällig! Als Mohammed Mursi und seine Muslimbrüder 2012 die ägyptische Regierung übernahmen, war das für viele ein Weckruf: Diese Entwicklung wird uns auch noch verschlingen! Also begannen sie aus purer Selbsterhaltung die fundamentalistischen Wahabis, Salafisten und Muslimbrüder zu bekämpfen. Außerdem wurde den Regimes immer klarer, daß sie sich nicht ewig aufs Erdöl verlassen können, sich also der Weltwirtschaft öffnen müssen. Aber wie soll man sich öffnen, wenn man die Hälfte der Bevölkerung einsperrt? Frauen etwa leben in Saudi-Arabien unter Hausarrest, denn ohne Begleiter dürfen sie nicht auf die Straße. Jetzt aber haben sie die Regeln gelockert, saudische Kinder studieren in Europa und den USA.

Außer den Reformen in Saudi-Arabien gibt es inzwischen das Abraham-Abkommen, also offizielle Beziehungen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain sowie eine Revolte im Iran. Sehen Sie die Möglichkeit eines grundlegenden Wandels?

Ali: Ja. Übrigens auch aufgrund der Freundschaft mit Israel. Doch nur wenn es gelingt, die atomare Bedrohung abzuwenden. Einige Fachleute glauben, daß der Iran bald die Atombombe haben wird. Wenn das aber passiert, wird es übel. Doch könnte man dies verhindern, könnte sich der Nahe Osten von einer sehr konservativen muslimischen Gesellschaft hin zur Moderne entwickeln. 

Woher nehmen Sie diese Zuversicht? 

Ali: Eben wegen der Veränderungen im Nahen Osten, Iran und in Saudi-Arabien. Dort wurde die Sittenpolizei abgeschafft, man wendet sich gegen die Wahabisten und hat aufgehört, in aller Welt die Dawa, also Missionierung, zu finanzieren. Das gibt Hoffnung! Das Problem ist aber, daß jetzt der Westen zur neuen Heimat der radikalen Islamisten wird. Wir im Westen sind sehr gespalten, unsere Gesellschaften altern, unsere Ökonomien stagnieren. Obendrein haben wir nun unsere eigene verrückte Ideologie in Form des Wokeismus. Wenn man das mit den Islamisten kombiniert, die versuchen, die jungen Menschen zu gewinnen, hat man ein gefährliches Gebräu, das für soziale Instabilität sorgen kann. 

Was sollten wir dagegen tun?

Ali: Netzwerke schaffen und auch mit Linken und Rechten zusammenarbeiten – solange sich diese an Gesetz und Menschenrechte halten. Denn die Herausforderung ist, daß die Islamisten durch die Dawa Herzen und Hirne der Jugend erobern, und diese dann losschicken, Gewalt und Terror zu verbreiten. Daß Schlimmste ist vielleicht, wie es ihnen gelingt, mit ihren Ideen den Geist der Jugendlichen abzuschotten. Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen!






Ayaan Hirsi Ali, die Politologin wurde durch ihre Kritik am Islam sowie ihren islamkritischen Film „Submission“ 2004 weltweit bekannt, den sie mit dem im selben Jahr von einem Islamisten ermordeten Regisseuer Theo van Gogh drehte. Geboren 1969 in Somalia, erhielt sie 1992 Asyl in den Niederlanden, 1997 wurde sie eingebürgert und war von 2003 bis 2006 Parlamentsabgeordnete der rechtsliberalen VVD. Danach arbeitete sie in den USA im universitären Bereich, heiratete den Historiker Niall Ferguson und wurde 2013 US-Bürgerin. 2007 gründete sie in New York die AHA-Stiftung zur Stärkung der Frauenrechte weltweit. 

Foto: Kritikerin Ali: „Es war eine Befreiung nach Amerika zu kommen. Man konnte sagen und schreiben, was man wollte. Das Meinungsklima war so viel freier als in Europa. Doch das hat sich geändert, heute herrscht dort die postmoderne Ideologie des Wokeismus ... die eine Sackgasse ist, ebenso wie der Islamismus. Beide haben keine Zukunft, spalten die Gesellschaft, sind reiner Nihilismus“