© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Platz schaffen, um nicht zu platzen
Migration: Die Asylantenzahl steigt, die Kommunen stehen unter Druck / Schuld sind auch falsche Anreize
Peter Möller

Wer auf dem Tempelhofer Feld in Berlin steht, dem erscheint die Behauptung „Wir haben Platz“, mit der auch in Berlin seit Jahren Politiker von Grünen bis Linkspartei für die zusätzliche Aufnahme von Ausländern werben, plötzlich plausibel. Kaum ein Baum, geschweige denn ein Haus stören den Blick über das 355 Hektar große Gelände in bester Lage mitten in der Stadt, das nun tatsächlich eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der aktuellen Flüchtlingskrise spielen könnte.

Bereits seit 2017 bietet auf dem ehemaligen Flughafenvorfeld ein Containerdorf gut tausend Flüchtlingen eine Bleibe, derzeit sind dort vor allem Ukrainer untergebracht worden. Doch angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen in der Hauptstadt reichen die Plätze längst nicht mehr aus. Um angesichts des bevorstehenden Winters schnell weitere Unterkünfte zur Verfügung stellen zu können, plant der Berliner Senat daher nun mehrere Zeltstädte zu errichten.

Laut Tagesspiegel wurden als mögliche Standorte neben dem Tempelhofer Feld unter anderem der Olympiapark, das Messegelände sowie Freiflächen auf dem stillgelegten Flughafen Tegel identifiziert. Dort könnten jeweils mindestens 2.000 Menschen in Zelten untergebracht werden. In „sehr kurzer Zeit“ müsse „eine große Zahl“ von Notunterkünften „für bis zu 4.000 Menschen“ her, um die Lage kurzzeitig etwas zu entschärfen und „die akute Obdachlosigkeit von Geflüchteten“ abzuwenden, zitiert der Tagesspiegel vergangene Woche aus einem Papier von Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke).

Illegale Einwanderung erneut enorm gestiegen

In vielen anderen deutschen Städten ist die Lage mittlerweile ähnlich prekär. Seit Montag nutzt die Stadtverwaltung Dresden die Halle 4 der Messe als Interimsunterkunft für bis zu 550 Geflüchtete, teilte das Rathaus der sächsischen Landeshauptstadt mit. „In abgegrenzten Wohnbereichen sollen alleinreisende Männer aus den aktuell typischen Herkunftsländern wie Syrien, Afghanistan und Venezuela unterkommen und später in andere Unterkünfte umziehen.“ Diese Zwischenlösung sei notwendig, weil die städtischen Quartiere für Asylbewerber durch die steigenden Zuweisungszahlen ausgelastet sind. Die Suche nach weiteren Unterkünften laufe auf Hochtouren. Ende Oktober waren nach Auskunft der Stadt von den 3.621 verfügbaren Plätzen zur Unterbringung von Asylanten in Wohnheimen, Wohnungen und Hotels bereits 3.164 belegt.

In den kommenden Wochen und Monaten rechnen Bund und Länder mit einem anhaltenden Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern – wie viele genau kommen, weiß niemand. Kaum jemand setzt indes auf eine Entspannung der Lage. Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt kritisierte, der Bund habe bislang keine Prognosen über die zu erwartende Zahl von Asylbewerbern vorgelegt. Denn die Erfahrung der vergangenen Jahre hat gezeigt, daß in den Herbst- und Wintermonaten besonders viele Ausländer nach Deutschland kommen. 

Bis Oktober zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) für dieses Jahr fast 160.000 Erstanträge auf Asyl in Deutschland. Das waren fast 40 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die meisten Antragsteller kamen aus Syrien, gefolgt von Asylbewerbern aus Afghanistan und der Türkei. Hinzu kommen nach Schätzungen der Behörden rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Auch diese Zahl könnte sich angesichts der russischen Angriffe auf die Infrastruktur in der Ukraine in den kommenden Wintermonaten noch einmal deutlich erhöhen.

Deutlich gestiegen ist zudem die Zahl der festgestellten unerlaubten Einreisen. Waren es in der ersten Jahreshälfte knapp 4.000 bis rund 5.000 Personen pro Monat, so stieg die Anzahl seit Juni jeden Monat überproportional. Im Juni stellte die Bundespolizei 6.667 illegale Einreisen fest, im Juli 6.941, im August schon 8.846 und im September 12.701. Viele dieser unerlaubt Eingereisten kommen laut Innenministerium als sogenannte Sekundärmigranten aus Griechenland, wo sie bereits als Flüchtlinge registriert wurden. Bereits 2021 verzeichnete die Bundespolizei ihrem vergangene Woche vorgestellten Jahresbericht zufolge 57.637 unerlaubte Einreisen nach Deutschland. Das bedeutet eine Zunahme um 63 Prozent gegenüber dem Vorjahr – und laut den Beamten einen neuen Höchststand seit 2017.

Parallel zu dieser Entwicklung, die immer mehr Kommunen an ihre Grenzen führt, scheint die Ampel-Koalition derzeit alles zu unternehmen, damit sich an dieser sich stetig verschärfenden Überlastung des deutschen Asylsystems nichts ändert. Derzeit werden immer neue Anreize gesetzt, die es für Menschen aus aller Welt auch ohne tatsächlichen Fluchtgrund attraktiv machen, nach Deutschland zu kommen. Denn längst hat es sich herumgesprochen: Wer es einmal hierher geschafft hat, kann meist so lange bleiben, wie er will. 

Jüngstes Beispiel sind die Pläne der Bundesregierung, die bislang übliche Regelüberprüfung von Asylentscheidungen abzuschaffen. Bislang mußte das Bundesamt nach drei Jahren den Schutzstatus von Flüchtlingen überprüfen. Zukünftig sollen Asylbescheide nur noch anlaßbezogen auf Widerrufs- und Rücknahmegründe überprüft werden, ob der angegebene Fluchtgrund überhaupt noch fortbesteht. Gleichzeitig befindet sich die Zahl der Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern aus Deutschland seit Jahren auf einem niedrigen Niveau. Im vergangenen Jahr schoben die Behörden knapp 12.000 Ausländer ab, 2020 waren es 10.800. Zudem scheitert mittlerweile ein Großteil der geplanten Abschiebungen. Allein 2021 waren das nach Angaben des Präsidenten der Bundespolizei, Dieter Romann, rund 18.500 Fälle.

Daß nicht zuletzt das im Vergleich mit anderen Ländern üppig ausgestattete deutsche Sozialsystem ein Magnet für Menschen in aller Welt ist, ist in Berlin den meisten Akteuren durchaus bewußt. Schon lange fordern Experten, diese sogenannten Fehlanreize abzustellen, um die Migration aus wirtschaftlichen Gründen einzudämmen. Hierzu zählt unter anderem die Praxis, vom Sachleistungsprinzip abzuweichen, wie es im Asylbewerberleistungsgesetz eigentlich verankert ist. Wo es zwingend vorgeschrieben ist, nämlich „zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts“ bei einer Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen, halten sich alle Bundesländer daran. Doch bei der „Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens“ sieht das schon anders aus. Auch hier sollten Sachleistungen bei denen, die in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht sind, die Regel sein. Aber: „In der Praxis dominieren hier in fast allen Bundesländern die Geldleistungen“, heißt es in einer offiziellen Zusammenstellung des Hamburger Senats, die der JUNGEN FREIHEIT vorliegt. Begründet wird die Abweichung damit. daß „zur Realisierung eines Minimums an persönlicher Dispositionsfreiheit und einer soziokulturellen Teilhabe keine Möglichkeiten gesehen werden, diese durch Sachleistungen zu realisieren.“

Auch der von der Ampel in Angriff genommene weitere Ausbau des Sozialsystems, der mit dem Bürgergeld seinen Anfang genommen hat, schafft neue Anreize. Zwar gilt für Asylbewerber weiter „nur“ das Asylbewerberleistungsgesetz, doch schon fordern Lobbyorganisationen wie Pro Asyl und die sogenannten Landesflüchtlingsräte, Flüchtlinge und Asylsuchende in das neue Gesetz zum Bürgergeld einzubeziehen. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die von der Ampel seit dem 1. Juni in das Hartz-IV-System eingegliedert wurden, würden bereits mit der Einführung das Bürgergeld erhalten.

Dadurch wird die Veränderung in der Struktur der Bezieher von Sozialleistungen in Deutschland weiter verfestigt: Immer weniger Deutsche und immer mehr Ausländer beziehen staatliche Leistungen. Während Anfang 2015 etwa 4,6 Millionen Deutsche und 1,3 Millionen Menschen ausländischer Herkunft – jeweils Erwachsene und Kinder – Hartz IV bezogen haben, sind es mittlerweile nur noch knapp drei Millionen deutsche Bezieher, aber 2,4 Millionen Ausländer. Deren Anteil hat sich damit von 23 auf 45 Prozent erhöht hat, rechnet die FAZ auf Grundlage der amtlichen Statistiken vor.

Für die oppositionelle AfD im Bundestag sind diese „Fehlanreize aller Art ein Hauptgrund der explodierenden illegalen Zuwanderung“, so ihr Innenpolitischer Sprecher Gottfried Curio gegenüber der jungen freiheit. Dazu zählten „neben ungebührlich rascher Aufenthaltserlaubnis bei ausbleibenden Abschiebungen vor allem die hohen finanziellen Leistungen“. Seine Fraktion werde daher im Bundestag demnächst in einem Antrag fordern, „den Vorrang des Sachleistungsprinzips bei den Asylbewerberleistungen zu stärken sowie den Übergang zu den noch höheren Sozialleistungen erst später erfolgen zu lassen“.

Fotos: Schlafraum in einer Sammelunterkunft für Flüchtlinge: Die Erfahrung zeigt, daß in den Wintermonaten besonders viele kommen; Luftaufnahme des Containerdorfes auf dem Tempelhofer Feld in Berlin: Notwendig, weil städtische Quartiere wegen steigender Asylzahlen ausgelastet sind