© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Alle Wege führen nach Deutschland
Neue Masseneinwanderung: Migranten zahlen viel Geld an Hintermänner in Kabul und Ankara. Sie berichten von Kooperationen mit Polizei und Grenzschutzbehörden. Teil 1 einer JF-Reportage
Hinrich Rohbohm

Die drei Männer fallen auf. Erschöpft liegen sie mit ihren Köpfen auf dem Tisch eines Restaurants im Wiener Hauptbahnhof. Sie haben nichts zu essen bestellt. Sie schlafen. Der dunklen Hautfarbe nach kommen sie vermutlich aus dem afghanisch-pakistanisch-indischen Raum. Wie so viele, die hier derzeit nach ihrer illegalen Reise durch die Balkanstaaten vorläufig angekommen sind.

Andere von ihnen liegen schlafend auf dem Bahnhofsboden, weitere stehen vor der großen digitalen Anzeigetafel in der Mitte der Halle, schauen sich die Fahrpläne an. Es ist später Abend, 23.30 Uhr. Besonders eine Fahrt interessiert die jungen Männer: der Eurocity Richtung München. Nach Deutschland. 

Nur zehn Minuten später werden sich bis zu hundert von ihnen auf dem Bahnsteig des ankommenden Zuges einfinden, in Gruppen die Köpfe zusammenstecken und schließlich von einem Helfer in einen der Waggons lotsen lassen. In aller Regel mit Fahrkarte und Reisepaß ausgestattet. An der Grenze zu Deutschland werden Polizeibeamte sie kontrollieren. Sie werden jedoch ihr Ausweisdokument vorzeigen und meist weiterfahren. Denn häufig gibt es bei der Kontrolle nichts zu beanstanden. Die Fahrkarte ist schnell gekauft. Und ob der Paß gefälscht ist oder echt können die Beamten in der Kürze der Zeit kaum feststellen.

Auch die drei Schlafenden am Restauranttisch wollen weiter. Wohin, ist noch unklar. Einer von ihnen ist aufgewacht, erhebt sich und begibt sich nach draußen an die frische Luft. Die JF spricht ihn an, während er sich eine Zigarette ansteckt. Der Mann stellt sich als Amir vor, 23 Jahre, aus Kabul in Afghanistan.

Erfahrungsgemäß gestaltet sich die Kontaktaufnahme zu Afghanen schwierig. Zuerst wegen der Sprachbarrieren. Aber auch durch Mißtrauen Fremden gegenüber. Zudem verspürt man bei ihnen oft wenig Neigung, Auskunft über ihren Weg nach Deutschland zu geben.

Doch bei Amir ist es anders. Er spricht gutes Englisch, zudem mehrere lokale Sprachen aus dem afghanisch-pakistanischen Raum, wie er sagt. Zeitweise habe er für Nato-Truppen gedolmetscht, als diese noch in seinem Land stationiert waren. „Ich hatte ein gutes Leben.“

Bis zum August 2021. Der Moment, in dem für ihn alles anders wurde. „Es ging alles so schnell. Niemand hatte damit gerechnet, daß die Taliban so rasch die Macht übernehmen würden.“ Amir kann sich noch gut daran erinnern. An die plötzlich aufkommende Hektik, aus der bald Panik wurde, zuletzt die nackte Angst um das Überleben.

„Alle wollten zum Flughafen, um noch rauszukommen. Auch ich.“ Doch für ihn sollte es bereits zu spät sein. „Mir war klar, ich mußte weg hier oder ich bin tot.“ Der Beginn einer langen Reise ins Ungewisse. Menschenschmuggler bringen ihn außer Landes, über den Iran in die Türkei. Hier bleibt er zunächst, findet Arbeit.

Bis er sich im vergangenen Monat wie viele andere entscheidet, sich auf den Weg nach Deutschland zu begeben, weil die wirtschaftliche Lage in der Türkei sich zusehends verschlechtert. Die Inflationsrate dort hat im Oktober 85 Prozent überschritten.

Amir ist einer jener etwa 100.000 Migranten, die über die Balkanroute versuchen, nach Deutschland zu gelangen. Über Details seiner Route und die organisierenden Hintermänner möchte auch er nicht reden. Erst nach langem Hin und Her und der Zusicherung von Anonymität beginnt er seine Geschichte zu erzählen. 

„Alles läuft über den Kachakbar“,  eine Art Oberschleuser in Kabul

„Alles läuft über den Kachakbar“, verrät uns Amir. Eine Art Oberschleuser, der von Kabul aus mit zahlreichen lokalen Schleppern auf den Migrationsrouten vernetzt ist und den Reiseweg koordiniert. „So bin ich in die Türkei gekommen.“ Ein weiterer Kachakbar sitze in Istanbul. Der hatte nun auch seinen Weg bis Österreich koordiniert. „4.000 Euro mußte ich an ihn bezahlen. Mein ganzes in der Türkei verdientes Geld.“ Per Taxi ging es an die EU-Außengrenze zwischen der Türkei und Griechenland. Gemeinsam mit weiteren Afghanen im Laderaum eines Lieferwagens weiter nach Athen. Amir wird von diesem Moment an in seiner Erzählung vom Geflüchteten zum illegalen Migranten, als er zugibt: „Es war nicht einfach für mich in der Türkei, aber Gefahr für mein Leben bestand hier natürlich nicht mehr.“

Bei manch anderem Insassen des Lieferwagens sah die Situation dagegen vollkommen anders aus, erinnert sich der 23jährige. „Ich habe einige meiner Landsleute reden hören. Sie sind in Wahrheit Taliban-Anhänger. Für sie bestand nie eine Lebensgefahr. Der einzige Grund für sie, nach Deutschland zu kommen, sind die attraktiven Sozialleistungen, um sie für die Taliban abzuschöpfen“, ist Amir überzeugt. Nach einer Übernachtung in Athen sei es mit einem anderen Lieferwagen über Nordmazedonien nach Serbien gegangen, von dort nach Subotica an die Grenze zu Ungarn.

„Der Kachakbar sagt, es gebe einen Deal mit der serbischen Regierung, die Migranten bestimmter Schleusergruppen weiter Richtung Westen ziehen zu lassen. Zu bestimmten Zeiten gebe es an bestimmten Abschnitten des Grenzzaunes Situationen, in denen die Polizei dann einfach nicht so genau hinschaue oder mit weniger Personal agiere. So einen Deal würde es auch mit der türkischen und der ungarischen Regierung geben“, erklärt Amir.

Dabei hatte gerade Ungarn mit dem Bau eines technisch hochwertig ausgestatteten Schutzzaunes entlang der serbischen Grenze in der Vergangenheit für Furore gesorgt. Serbien hingegen war jüngst durch seine gelockerte Visumvergabe vor allem bei der EU in die Kritik geraten. Der Verdacht: Der Rußland nahestehende serbische Präsident Aleksandar Vučić würde auf diese Weise Migranten anlocken und in die EU weiterziehen lassen, um so die Einwanderungswilligen im Interesse Rußlands zur Waffe ziviler Kriegsführung zu machen. Rußland wiederum hatte jüngst eine visafreie Einreise in seine Exklave Königsberg angekündigt, was wiederum das daran angrenzende Polen kürzlich zu Überlegungen zum Bau eines Grenzzaunes bewegte.

Auch die EU reagierte. Drohte damit, Serben künftig die visafreie Einreise in die EU zu verweigern. Das wirkte. Serbien kündigte an, die visafreie Einreise für einige Länder wieder zurückzunehmen. Das Land sieht sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Vielmehr wolle man alles unternehmen, um die Migrantenzahlen zu senken, verkünden Regierungsstellen.

Der Grenzübertritt erfolgt an mehreren Stellen gleichzeitig

Doch die Realität vor Ort sieht anders aus. In Belgrad sitzen Hunderte Migranten in einem Park nahe dem Fernbusbahnhof, von dem aus sie an die Grenzen Richtung Ungarn, Kroatien oder Rumänien aufbrechen. Es sind überwiegend Afghanen, Inder, Pakistanis und Syrer, aber auch Schwarzafrikaner und Türken. „Wir wollen nach Subotica“, sagen sie der JF dort übereinstimmend. „Es hat sich herumgesprochen, daß die ungarischen und serbischen Grenzschützer an bestimmten Abschnitten zu bestimmten Zeiten nicht so genau hinsehen“, schildert auch dort einer von ihnen den Grund, warum so viele ausgerechnet diese etwas mehr als 100.000 Einwohner große Stadt als Drehscheibe weiter Richtung Mitteleuropa nutzen.

Das bestätigt sich auch am Belgrader Fernbusbahnhof. Eine Menschentraube aus Afghanen, Indern, Syrern und Pakistanis hat sich dort an einer Busbucht eingefunden. Es ist der Platz, von dem aus die Abfahrt nach Subotica erfolgt. „Wir haben gehört, es ist derzeit die beste Chance, um von dort nach Deutschland zu kommen“, sagen sie auch hier. Zum Grenzübergang bei Plankenburg (Bačka Palanka) nach Kroatien wollen hingegen nur wenige.

Ebenfalls Gedränge vor dem am Busbahnhof befindlichen Geldwechselhaus. Eine Gruppe Schwarzafrikaner steht davor. „Die wollen alle Euro haben“, erzählt die Frau am Schalter. Euros für ihre geplante Weiterreise nach Österreich und Deutschland. In der Nähe des Parks haben sich fliegende Händler breit gemacht, verkaufen Kleidung an die Migranten, welche die sich in ihre Rucksäcke stopfen. 

Amir weiß, warum sie das machen. Auch er hatte es getan. „Wenn die Grenze passiert ist, ziehen sich alle schnell saubere Sachen an, weil sie mit den alten auf der Route zerschlissenen auffallen würden.“ In einem Waldstück hätten sich alle schnell umgezogen und die abgetragene Kleidung weggeworfen.

Bei Subotica gebe es ebenfalls einen Wald, in dem viele versuchen, den gut gesicherten ungarischen Grenzzaun zu überwinden. „Einige hatten Leitern dabei, die hatten wir gleichzeitig an mehreren Orten an den Zaun gestellt.“ Der Grund für diese Taktik: Der Grenzzaun sei per Videokameras überwacht und verfüge zusätzlich über Bewegungssensoren. „Setzt jemand eine Leiter an oder versucht hinüberzuklettern, löst dies einen Alarm aus und die Grenzschützer kommen.“ Die Schleuser wüßten das bereits. Weil es nicht genug  Grenzschützer gebe und die wenigen nicht überall sein könnten, erfolge der Übertritt an mehreren Stellen zugleich. Die Schleuser hätten ihnen kurz zuvor mitgeteilt, wann und wo der Moment günstig sei.

„Über den Stacheldraht haben wir Kleidungsstücke gelegt, um uns vor Verletzungen zu schützen“, erzählt Amir. Wenige Meter weiter sei noch ein Zaun zu überwinden gewesen. „Wer keine Leiter hatte, kletterte so hoch. Viele verletzten sich beim Sprung von dem über vier Meter hohen Zaun auf die andere Seite.“ Andere seien von Spürhunden der ungarischen Grenzschützer gebissen worden. 

Zahlreiche Migranten werden von den Ungarn aufgegriffen und wieder zurück nach Serbien geschickt. „Mich haben sie zweimal wieder zurückgebracht“, sagt einer aus der Gruppe im Park. Er humpelt. Die Folge seines Sprungs vom Grenzzaun, erklärt er.

Hat man den erstmal überwunden, verstecken sich die Migranten zunächst vor der Polizei. Die Schleuser hätten für sie Unterschlüpfe im Wald errichtet. Amir wundert sich heute, warum die ungarische Polizei diese nicht längst durchkämmt hat. Dann ging es weiter mit einem Lieferwagen nach Österreich. „Wir wurden mit 30 Leuten in den Laderaum gequetscht.“ Irgendwo an der Grenze habe der Wagen gestoppt. Dann sei alles ganz schnell gegangen. „Die Ladetür ging auf, alle rannten raus und rüber nach Österreich.“ Es folgte das gleiche Spiel. Wieder ein Waldstück, wieder wechselten Migranten ihre kaputte und schmutzige Kleidung und warfen die alten Stücke weg. Vor allem die Orte Deutschkreutz und Lutzmannsburg im Burgenland sind zu Hotspots für den illegalen Grenzübertritt geworden. 

Die Schleuser hatten Amir per Handy zu einem an der Grenze wartenden Wagen gelotst, der ihn zum Wiener Keplerplatz brachte. „So kam ich hier her“, beendet er seine Schilderung und ringt sich ein leichtes Lächeln ab. Schon bald wird er einen Zug nach Deutschland nehmen. „Funktioniert das denn mit afghanischem Paß?“ Amir lächelt darauf nur vielsagend. Dann geht er zurück in die Bahnhofshalle.


Lesen Sie in der kommenden Ausgabe mehr über die Migrationswege in die EU und wie Südländer wie Zypern Druck aufbauen, um Gelder zu erhalten.