© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Fördern statt unterfordern
Bürgergeld: Der Hartz-IV-Ersatz wurde im Bundesrat vorerst gestoppt / Mehr Zuwanderungsanreize?
Dirk Meyer

Nachdem das umstrittene Bürgergeld-Gesetz vorige Woche im Bundestag durch die Mehrheit der Ampel-Koalition beschlossen wurde (JF 46/22), liegt der Ball jetzt im Vermittlungsausschuß. Denn im Bundesrat gab es am Montag keine ausreichende Zustimmung dafür; dort haben die Landesregierungen mit Unionsbeteiligung derzeit eine 39 zu 30 Mehrheit. Doch die Zeit drängt, denn nach Aussage der Bundesagentur für Arbeit muß spätestens zum 30. November Rechtssicherheit zu den neuen Regelsätzen bestehen. Ansonsten sei es unmöglich, ab 1. Januar statt 449 Euro Arbeitslosengeld II nun 502 Euro Bürgergeld auszuzahlen.

Die Regelsatzerhöhung um 53 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen ist unstrittig, vor allem ein Kompromiß über die weitgehenden Lockerungen von Sanktionen bei der Arbeitsvermittlung scheint aber schwierig. Umstritten sind die auch sogenannten Karenz- und Vertrauenszeiten, während derer der Bürgergeld-Antragsteller einen besonderen Schutz erfährt. Dies betrifft erstens das „Schonvermögen“: In den ersten zwei Jahren werden Erspartes oder Abfindungen nur berücksichtigt, wenn die Höhe von 60.000 Euro für die leistungsberechtigte Person sowie 30.000 Euro für jede weitere Person der Bedarfsgemeinschaft überschritten wird. Nicht berücksichtigt wird selbstgenutztes Wohneigentum unabhängig von Wohnfläche und Verkehrswert, ebenso ein Kfz für jede erwerbsfähige Person.

Höheres Schonvermögen in der Vertrauens- und Karenzzeit

Erst nach dieser Karenzzeit gilt für jede Person ein Betrag von 15.000 Euro als Schonvermögen. Nicht ausgeschöpfte Freibeträge werden auf andere der Bedarfsgemeinschaft übertragen. Eigenheime von 140 und Eigentumswohnungen mit 130 Quadratmeter Wohnfläche werden nicht angetastet. Praktisch hieße das aber, daß eine 135-Quadratmeter-Wohnung nicht mehr zum unberücksichtigten Vermögen gerechnet würde, während ein gleich großes Einfamilienhaus mit Grundstück anrechnungsfrei bliebe. Doch all diese Regelungen des Bürgergeldes müssen finanziert werden. Weite Teile der erwerbstätigen Bevölkerung bestreiten ihren Lebensunterhalt aus eigener Erwerbsarbeit, haben dabei eher geringe Vermögen und finanzieren über ihre Steuern diese „Sozialfälle“. Zudem stellt die Sonderstellung von selbstgenutztem Wohneigentum eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Vermögensarten dar. Der Schutz des Grundbedürfnisses „Wohnen“ könnte alternativ in einem zinslosen Sozialkredit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bestehen, der die Sozialleistung ersetzten würde. Liquidität zur Finanzierung des monatlichen Grundbedarfes und das Immobilieneigentum für den Bürgergeld­empfänger wären zugleich gesichert.

In der zweijährigen Karenzzeit werden auch die Mietkosten unabhängig von ihrer Höhe übernommen werden. Zur Begründung wird auf eine hohe Zahl von Widerspruchs- und Klageverfahren verwiesen, die die Rechtsunsicherheit widerspiegeln würden. Eine praktikable Lösung wäre eine Rechtsverordnung, mit der den Jobcentern bundesweit einheitliche Bewertungskriterien vorgegeben würden. Konstante Wohn- und Lebensverhältnisse sind besonders für Kinder wichtig. Hier wäre eine Ausnahme überlegenswert. Auch wäre folgende Wahlmöglichkeit denkbar: Es könnte erlaubt werden, aus dem Schonvermögen Mittel für die Differenzzahlung zu verwenden. Ebenfalls könnte eine anteilige Beteiligung des Sozialhilfeträgers erwogen werden. Um Anreize zur Einsparung von Heizenergie zu geben, sollte ähnlich den Stromkosten eine Heizkostenpauschale erwogen werden.

Zu einem bedingungslosen Grundbedarfseinkommen wird das Bürgergeld für die ersten sechs Monate der „Vertrauenszeit“ bei der (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Während dieser Zeit sind Leistungsminderungen bei erstmaligen Meldeversäumnissen und bei Pflichtverletzungen vollständig ausgeschlossen. So bleibt eine mangelnde Mitwirkung bei der Stellensuche ohne Sanktion, obwohl Auswertungen des Bundesrechnungshofes zeigen, wie entscheidend das ist. Das Bürgergeld dürfte also eine höhere Sogwirkung haben als die bisherigen „Hartz IV“-Regelungen – auch auf Arbeitslose ohne Arbeitslosengeld-I-Anspruch, die kurz vor dem Renteneintritt stehen, auf Teilzeitbeschäftigte, auf Ungelernte und Familien mit höherer Kinderzahl oder Migranten.

Von den insgesamt 4,9 Millionen Regelleistungsbeziehern im März 2022 waren 3,05 Millionen Deutsche (61,6 Prozent) und 1,9 Millionen Ausländer (38,4 Prozent) – 1,49 Millionen davon kamen nicht aus EU-Staaten. 2021 summierten sich Hartz-IV-Regelleistungen auf insgesamt 35,9 Milliarden Euro. Zugleich zeigen die Daten, daß 2021 bereits eine Mehrheit von 51,7 Prozent der neu hinzugekommenen Hartz-IV-Bezieher keine deutsche Staatsangehörigkeit hatte. Ein Anteil abgelehnter bzw. eingestellter Asylanträge von 60,1 Prozent (2021) sowie die Sekundärmigration aus anderen EU-Ländern (Griechenland, Italien) deuten hier auf eine hohe Anziehung Deutschlands hin.

Auch mehr Respekt für die finanzierenden Steuerzahler?

Hinzu kommen 604.000 ukrainische Staatsangehörige (Stand Oktober 2022), die seit Juni 2022 sofort Leistungen der Grundsicherung erhalten. Hinweisen auf eine „Pendel-Migration“ im Zusammenhang mit langen Heimataufenthalten ukrainischer, syrischer und irakischer Staatsangehöriger ist nachzugehen, um Leistungsmißbrauch auszuschließen. Eine entsprechende Verschärfung der Bestimmungen zum Aufenthaltsort sollte anlaßbezogen erwogen werden. Demgegenüber fordert die Organisation „Pro Asyl“ das Bürgergeld auch für Asylbewerber einzuführen, die bislang geringere Unterstützungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen.

Die Forderung nach „mehr Respekt“ wird mitunter zur Immunisierung gegen jegliche Kritik an durchaus kritikwürdige Hilfe-Reformen genutzt. Im Sinne einer gesellschaftsvertraglichen Fiktion gemäß des US-Staatstheoretikers John Rawls (1921–2002), nach der jeder unter dem „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance) zukünftig sowohl zu den Begünstigten wie auch zu den Benachteiligten zählen kann, geht es keinesfalls nur um den Respekt vor den Hilfenehmenden. Vielmehr erfordern Gerechtigkeit und der Respekt für die finanzierenden Steuerzahler ein System, welches die Angemessenheit von Freistellungen und Anreize zur Überwindung der Hilfesituation auch während Karenz- und Vertrauenszeiten erfüllt. Diese Zielvorgabe kann das vorgelegte Bürgergeld-Gesetz konstruktionsbedingt nicht erfüllen.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

 www.bundesrat.de