© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

„Wir sind das Werk“
Tarifkampf: Belegschaft der erfolgreichen Riesaer Nudelfabrik fordert Erhöhung des Stundenlohns um zwei Euro
Martina Meckelein / Kenneth Wishöth

Strahlendblauer herrlicher Herbsthimmel über dem Brandenburger Tor. Auf dem Pariser Platz hält ein Kleinbus. Ein Mann von der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG) stellt ein Zelt auf. In einer halben Stunde soll hier eine Demonstration starten. Es geht, ganz profan, um die Forderung nach Lohnerhöhung. Überall rennen Journalisten herum. Doch die interessieren sich nicht für Menschen, die um ihre Existenz kämpfen. Der Blick der vierten Gewalt richtet sich auf Höheres – auf die Quadriga: Auf dem Dach des Berliner Wahrzeichens demonstrieren zwei Klima-Retterinnen. Wen interessieren da noch Arbeiter aus der Nahrungsmittelindustrie.

Es ist der 9. November. Nicht zufällig ausgewählt haben sich die 35 Angestellten der Teigwaren Riesa GmbH das Datum des Mauerfalls vor 33 Jahren, um nach Berlin zu reisen und auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Gegen 12.20 Uhr marschieren sie durchs Brandenburger Tor. Lauthals trötend. Die Sachsen tragen Plakate, auf denen zu lesen ist: „Wir sind das Werk“, oder: „Lohngerechtigkeit in Ost und West“. Seit fünf Wochen streiken die rund 150 Mitarbeiter des regionalen Nudelmarktführers. Ihre Forderungen: Weg vom Mindestlohn und raus aus dem Niedriglohn.

„Wir stehen hier heute stellvertretend für Millionen Beschäftigte in Ost und West, die gerade mal den Mindestlohn oder weniger verdienen“, ruft Olaf Klenke von der NGG ins Megaphon. „In der Zeit dieser Inflation kommen die Leute nicht mehr über die Runden. Wir brauchen ordentliche Löhne in Ost und West. Und die Lohnmauer, die es gibt, die Niedriglohnmauer, die muß endlich fallen, dafür sind wir heute hier.“ Die Gewerkschaft fordert gemeinsam mit der Belegschaft eine Erhöhung der Stundenlöhne: Einen Euro sofort und den zweiten Euro im kommenden Jahr. Doch die Eigentümer – der Familie Freidler gehört auch die Alb-Gold Teigwaren (Werbespruch: „Grundlegende Wertebasis“ sind die „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen“) im württembergischen Trochtelfingen und seit 2018 die Al Dente Pasta Company in Michigan – will die Forderungen nicht ganz erfüllen. Ihr Angebot: Lohnanhebung um 1,20 Euro. Der gesetzliche Mindestlohn liegt seit Oktober 2022 bei zwölf Euro. Die Fabrik der „Riesa-Nudeln“ ist einer der größten Hersteller Deutschlands: 25.000 Tonnen Eier-, Vollkorn-, Dinkel-, Kinder-, Bio-, Wok-Nudeln oder Gourmet-Spezialitäten werden pro Jahr produziert. Der Umsatz stieg in zehn Jahren von 32 Millionen Euro auf geschätzte 58,5 Millionen Euro in diesem Jahr, die Ausgaben für Löhne und Gehälter betrugen 2020 rund 4,42 Millionen Euro. Gewinn in 2020: 1,9 Millionen Euro.

„Ich arbeite in der Technik“, sagt Andreas Wolf (39). Seit 14,5 Jahren ist der Mechatroniker bei Riesa Nudeln angestellt. Die Firma wirbt damit, zu 100 Prozent heimische Rohstoffe zu verarbeiten. Das Markenversprechen lautet: „Für Dich von Hier“. Den Kunden mag es freuen, so umworben zu werden, die Angestellten würden sich gerne auch so gut aufgehoben fühlen. „Ich bekomme 16 Euro die Stunde“, sagt Wolf, „aber die meisten von uns nur 12,51 Euro. Und das im Drei-Schicht-Betrieb und Wochenendschichten.“ Obwohl Wolf zu den Besserverdienern gehört, kann sich der Vater von drei Kindern keine großen Sprünge leisten. „Wir haben kein Haus, ich fahre einen 13 Jahre alten Touran, mein Camper ist 30 Jahre alt. Urlaub machen wir bei Verwandten in Bayern, die uns unterstützen.“

Plötzlich erscheint der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD). Natürlich geben sich auch Abgeordnete der Linken und Grünen ein Stelldichein. Doch es war Rot-Grün, die mit ihrer Agenda-Politik den Grundstein für die doppelte Lohnungerechtigkeit legten: Die unterschiedliche Bezahlung zwischen Ost und West und die Schaffung des Niedriglohnsektors.

Lutz Bradatsch (56) ist einer der Kollegen, die nur 12,51 Euro verdienen. „Ich bin gelernter Bäcker und arbeite als Maschinenführer in der Verpackung im Werk II in Riesa.“ Bald zehn Jahre ist er dabei. „Ich lebe vom Streikgeld. Die Höhe soll das Netto abbilden, allerdings gibt es natürlich keine Zahlung von Zuschlägen. Ab Dezember sind wir dann auf den Solifonds der Gewerkschaft angewiesen. Der ist eine Klasseidee, aber dann wird es eng.“ Doch den Streik aufzugeben ist für die Riesaer keine Option. „Wenn wir das tun“, sagt Bradatsch, „dann war alles umsonst.“ Auch Anke Stets (54) gibt ihrem Kollegen recht: „Es herrscht wirklich hohe Solidarität in fast allen Abteilungen.“ Und während 35 Kollegen des Nudelherstellers in Berlin demonstrieren, steht zur selben Zeit der Rest der Belegschaft in Riesa vorm Werkstor. „Gearbeitet wird da nicht mehr, die Maschinen stehen still“, sagt Wolf. „Nur noch im Werk I werden die Silos geleert, mit angelernten Ausländern.“ Bradatsch sagt zum Abschied: „Ich verstehe die Firmenleitung nicht. Es geht doch eigentlich nur noch um 80 Cent.“

30 Meter weiter kommt Bewegung in den Journalistenpulk. Ganz offensichtlich wird eine der Klima-Aktivistinnen jetzt vom Dach geholt. Da baumelt sie gemeinsam mit einer Polizeibeamtin am Kran des Polizeifahrzeugs langsam zur Erde. Ein junges Dingelchen. Blond, pausbäckig. Um sie herum eine Traube von Journalisten. Die streikenden Arbeiter aus Riesa greifen derweil auf dem Pariser Platz zum Löffel. Es gibt für sie ein Soli-Menü: Bolognese mit Risaer-Nudeln.

 www.teigwaren-riesa.de

 www.alb-gold.de