© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Genauer hinschauen
Wokes Deutschland: Eine Denkfabrik wirbt für eine neue bürgerliche Politik
Karlheinz Weißmann

Wenn der Fernsehmoderator erlärt, daß es die Öffentlich-Rechtlichen mit der Zwangsdiversität übertreiben und der Focus-Kolumnist vor dem wachsenden Einfluß „kreischiger Minderheiten“ warnt, wenn die Chefreporterin der Welt äußert, daß die permanente Beschimpfung all derer, die nicht „woke“ sind, als „Nazis“, eine Gefahr für die Demokratie darstellt, der neue italienische Kulturminister in den Kampf gegen die mediale Übermacht der Linken zieht und der Gouverneur des US-Staates Florida sein Amt mit dem Hinweis erfolgreich verteidigt, er wolle verhindern, daß „Antirassismus“ Lernziel in den Schulen werde, dann spricht das für eine Veränderung des Meinungsklimas.

Dasselbe gilt für das Auftreten einer neuen Denkfabrik unter dem Namen „Republik 21“, kurz und smart „R21“. Ihre führenden Köpfe sind der Historiker Andreas Rödder, die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, die Ethnologin Susanne Schröter und der Psychologe Ahmad Mansour. In der vergangenen Woche hat R21 einen ersten Kongreß in Berlin unter dem Titel „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“ veranstaltet. Die Reaktionen fielen erwartbar aus: gereizt auf der Linken, die selbstverständlich bestritt, irgendwelchen dominanten Einfluß auf die Debatte zu haben, Zensur zu üben und voller Nachsicht auf die eigenen Extremisten zu blicken, wohlwollend in Blättern wie der Neuen Zürcher Zeitung, wo das Unbehagen an staatlicher Umerziehung und einer Fixierung auf bunte Minoritäten erkennbar zugenommen hat, verständnislos in Kreisen von CDU/CSU und FDP, die ungern auf eigene Defizite hingewiesen werden. Letzteres wird die Spitze von R21 schmerzen, die als „Denkfabrik für neue bürgerliche Politik“ gerade darauf setzt, die „Mitte“ neu auszurichten und ihr die Ignoranz gegenüber kulturpolitischen Themen abzugewöhnen.

Denn das Zusammenschnurren des Meinungsspektrums führt das „Manifest“ von Republik 21 schlüssig darauf zurück, daß die „Parteien des bürgerlichen Lagers (…) diese Entwicklung durch Gedanken-, Sprach- und Tatenlosigkeit nicht nur allzu lange ermöglicht, sondern sogar begünstigt“ haben. Liberale, Christdemokraten und Christsoziale verkennten die Bedeutung von Ideen und Leitvorstellungen in einer modernen Gesellschaft und die Rolle derjenigen, die entscheidenden Einfluß auf Netz, Fernsehen, Rundfunk, Presse und Bildungssektor ausüben. Damit gefährde man die „Grundlagen der freien Gesellschaft“, die es eigentlich zu verteidigen gelte.

Feststellungen, denen kaum zu widersprechen ist. Anders verhält es sich allerdings mit der Ursachenanalyse, die R21 bietet. Denn in dem Manifest heißt es weiter, daß das Gemeinwesen gleichermaßen „durch populistische und extremistische Rechte (…) wie durch woke Linke bedroht“ werde, und: „Beide, die woke Linke ebenso wie die radikale Rechte, stehen für eine identitäre Politik, die nicht vom Individuum ausgeht, sondern von Gruppenzugehörigkeiten aufgrund ethnischer, sexueller, sozialer oder kultureller Merkmale. Während die woke Linke ihr identitätspolitisches Denken und Handeln an diversen ‘Opfergruppen’ ausrichtet, steht die radikale Rechte für einen ethnisch homogenen, völkischen Ansatz. Das Ergebnis ist ein Kulturkampf, der von der Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land noch immer unterschätzt oder ignoriert wird.“

Das sind Sätze, die nur auf den ersten Blick wie die selbstbewußte Markierung des Zentrums wirken. Denn schon die Reihenfolge, in der man die Feinde nennt, und die Verteilung der Adjektive wirken verräterisch: die Linke wird als „woke“ bezeichnet, die Rechte wahlweise als „populistisch“, „extremistisch“ oder „radikal“. Man signalisiert Äquidistanz, aber man hält sie nicht durch. Ein solches Vorgehen mag taktisch geboten scheinen, verstellt aber die Möglichkeit, die tiefere Ursache für die Misere der geistig-politischen Lage zu erfassen, auf die man mit guten Gründen hinweist. Denn diese Lage ist keineswegs das „Ergebnis“ des Aufeinanderprallens von auch nur annähernd gleichstarken Gruppierungen auf der Linken und der Rechten, die sich „gegenseitig“ aufstacheln, sondern die Folge eines über Jahrzehnte fortgesetzten Kulturkrieges, den die Linke angezettelt hat und dem wir die nun allseits beklagte „Spaltung“ des Gemeinwesens verdanken. Man mag das Aufkommen einer „populistischen“ Rechten als Reaktion der „Mehrheitsbevölkerung“ betrachten, aber entscheidend ist in diesem Zusammenhang doch das Versagen der Mitte, auf die Republik 21 setzt, und die entweder mit der Linken kollaboriert oder stückchenweise aufgibt, was eben noch zum eigenen Wertekanon gezählt wurde.

Daß Republik 21 diesen Zusammenhang nicht schärfer in den Blick nimmt, hat ganz wesentlich mit dem Zielbild der „Offenen Gesellschaft“ zu tun. Deren Blaupause ist offenbar die Ära Kohl, in der die Vorstandsmitglieder Rödder und Schröder politisch geprägt wurden. Was sie deshalb übersehen, ist, daß die alte Bonner wie die junge Berliner Republik Übergangsphänomene waren, lediglich denkbar in einer Phase, in der die alte Blockbildung stabilisierend nachwirkte und ein Rest an Traditionen und Institutionen das innere Gefüge aufrechterhielt. Nur deshalb konnte man während der 1980er und 1990er Jahren meinen, in einer auf dem Einzelnen, seiner freien Entscheidung und dem Gesellschaftsvertrag beruhenden Sozialform zu leben. Aber auch bloß dann, wenn man glaubte, daß Globalisierung, digitale Revolution, Masseneinwanderung, Fragmentierung der Bevölkerung und Verrat der Intellektuellen folgenlos bleiben würden. Denn hier vollzogen sich Prozesse von außerordentlicher Wucht, die seitdem immer weiter fortgeschritten sind und jeden Rekurs auf eine Politik, die „vom Individuum ausgehen“ soll, zur leeren Floskel macht.

Eine Perspektive, die viel weniger erfreulich wirkt, als die, die Republik 21 bietet, aber mehr Wirklichkeitssinn für sich hat. Denn sie kalkuliert mit der Wiederkehr einer vergessenen und bitteren Wahrheit: Alle politische Existenz zehrt von Identität, Legitimität, Sekurität, Souveränität. Knappe Ressourcen, die sich nach und nach erschöpfen, was ruppige Verteilungskämpfe heraufbeschwört. Wer darauf vorbereitet sein will und sich um das Land sorgt wie die Leute von R21, muß als erstes genauer hinsehen.

Kontakt: Republik 21 e.V., Denkfabrik für neue bürgerliche Politik, Baierbrunner Straße 25, 81379 München  https://denkfabrik-r21.de