© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Das Gesetz der neuen Klasse
Parteienstaat: Eine oligarchische Funktionärsschicht hat sich vom Volk abgekoppelt
Thorsten Hinz

Die Inflation, die Ausbeutung der Mittelschichten durch den Steuer-, Abgaben- und Umverteilungsstaat und die Vernichtung des Mittelstandes durch politische Fehlentscheidungen führen zu einer brutalen Nivellierung und Egalisierung in der Gesellschaft. Parallel hat eine neue Hierarchisierung stattgefunden: Der Parteienstaat hat eine oligarchische Funktionärsschicht generiert, die sich von der Lebensrealität des Wahlvolks entkoppelt hat und eigene, gruppenspezifische Interessen vertritt, die mit denen des Demos nichts zu tun haben oder sogar gegenläufig sind. Dabei befindet sie sich in der vorteilhaften Lage, sich den Folgen ihres objektiven Versagens nicht nur entziehen, sondern diese dem Volk als moralische oder historische Pflicht auferlegen zu können. Die Erscheinungsformen dieses Gruppenegoismus hat Matthias Matussek kürzlich pointiert skizziert („Es kümmert sie nicht“, JF 43/22). 

Zur treffgenauen Bezeichnung drängt der Begriff „Verbonzung“ sich geradezu auf. Denn ein Bonze, lesen wir im Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (herausgegeben in Ost-Berlin 1984), ist der „Funktionär einer Partei, Organisation, der die Verbindung zu deren Mitgliedern verloren hat und seine Stellung bes(onders) zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen mißbraucht“. Im West-Pendant „Deutsches Wörterbuch“ (1996) wird zusätzlich der Wirtschaftsfunktionär erwähnt und ein erläuterndes Zitat hinzugefügt: „Die Bonzen brauchen sich keine Sorgen zu machen, wie sie ihre Miete bezahlen.“ Gleiches gilt für ihre Gasrechnung.

Die Entwicklung gehorcht dem „ehernen Gesetz der Oligarchie“, das der Soziologe Robert Michels 1911 in seinem Hauptwerk „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“dargestellt hat. Es wirkt nicht nur in der Demokratie, es ist systemübergreifend und war auch im real-existierenden Sozialismus gültig.

In dem 1957 veröffentlichten Buch „Die neue Klasse“ hat der jugoslawische Dissident Milovan Djilas (1911–1995) anschaulich beschrieben, wie der Prozeß unter kommunistischen Vorzeichen ablief. Djilas war ein hoher Funktionär im Parteiapparat gewesen und hatte sich von einem gläubigen Kommunisten zu einem scharfen Systemkritiker entwickelt. Seine häretische Delegitimierung des vorgeblichen Arbeiter-und-Bauern-Staates büßte er mit insgesamt zehn Jahren Haft.

Wandlung vom Kommunisten zu einem scharfen Systemkritiker

Die „heroische Ära des Kommunismus“ sei vorbei, schrieb Djilas. Heroisch war am Anfang der Bewegung der Glaube gewesen, man könne die Welt revolutionieren und eine neue, humane Gesellschaft errichten, in der – nach Marx – die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung der Freiheit aller ist. Im Namen dieser Utopie hatten einzelne Kommunisten schwerste persönliche Opfer auf sich genommen. Jetzt war die sozialistische Terminologie bloß noch eine „allgemeine legale Fiktion“  und „der Marxismus zu einer Theorie geworden, die ausschließlich von Parteiführern definiert wird“.

Das gesamte politische Leben, so Djilas, sei „zu einer Domäne der Parteitätigkeit degeneriert“. Das Verständnis von Wahrheit unterlag der „doktrinären Autorität halbgebildeter Bürokraten“. Den Technokraten der Macht – „Männer der Praxis“ – ging es nur darum, aus dem „administrativen Monopol, das sie innehaben, Privilegien und materielle Vorteile“ zu ziehen. Ihren Profit bezogen sie „aus dem Kollektiveigentum, das sie ‘im Namen’ des Volkes und der Gesellschaft verwaltet und verteilt“ hatten. Die Partei war zum Instrument „der neuen Oligarchie“ geschrumpft; „sie zieht diejenigen an, die in ihr aufgehen, an ihr teilhaben wollen“.  Voraussetzung für den Aufstieg in die „neue Klasse“ war „eine besondere Geschicklichkeit, Doktrinen zu verstehen und zu entwickeln. Hartnäckigkeit im Kampf mit Gegenspielern, außergewöhnliche Gewandtheit und Schlauheit in den innerparteilichen Kämpfen und ein Talent, die Klasse zu festigen“. Spätestens an dieser Stelle denkt man an die Feststellung von Bundespräsident Richard von Weizsäcker aus dem Jahr 1992, der typische bundesdeutsche Berufspolitiker sei „ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft“. 

Das Privateigentum an Produktionsmitteln wurde formal in Kollektiveigentum („Volkseigentum“) umgewandelt mit der Begründung, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen die Grundlage zu entziehen. In Wahrheit kamen die Fabriken, Betriebe, die materiellen Annehmlichkeiten der enteigneten Schichten in die Verfügungsgewalt der neuen Klasse, die umgehend Villen und Landhäuser für sich in Beschlag nahm. Neben den großbürgerlichen und adligen Oberschichten gerieten auch der Mittelstand und die landbesitzenden Bauern ins Visier der Enteigner, denn ökonomisch und verwaltungsmäßig unabhängige Bürger, die in der Lage waren, sich dem Machtmonopol der Partei zu entziehen, bildeten einen politischen Unsicherheitsfaktor, der beseitigt werden mußte.

Kritiker wurden zu Staats-und Volksfeinden erklärt

Djilas hatte die Entwicklung in Jugoslawien nach 1945 vor Augen. Über die Vorgänge in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gab der Ex-Kommunist Wolfgang Leonhard (1921–2014) in dem Buch „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ (1955) Auskunft, das er nach seiner Flucht aus der DDR verfaßte. Leonhard war am 30. April 1945 als jüngstes Mitglied der kommunistischen „Gruppe Ulbricht“ aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland eingeflogen worden. Die Gruppe hatte den Auftrag, sofort nach der Kapitulation mit der sozialistischen Transformation der SBZ zu beginnen. Während draußen bitterste Not herrschte, speiste die neue Nomenklatura an weißgedeckten Tischen mehrgängig. Die Funktionäre bezogen in Berlin-Pankow enteignete Villen. Ein ausgewählter Kreis erhielt „Pajoks“ (russisch „Marschverpflegung“): Pakete mit Lebensmitteln, Zigaretten, Alkohol, Schokolade. Leonhard berichtet, wie ein Funktionär sich nach einem reichlichen Mahl auf dem Sofa rekelte und spontan ausrief: „Es ist doch schön, zur herrschenden Klasse zu gehören!“

Das Wirken der neuen Klasse war dysfunktional, aber das brauchte sie nicht zu stören. Djilas: „Die Klasse profitierte von dem neuen Eigentum, selbst wenn die Nation als Ganzes dabei verlor.“ Auch der unmittelbare Beutewert des Staates wurde von ihm thematisiert: „Die Tatsache, daß die Regierung und die Partei mit dem Staat identisch sind und praktisch mit den Besitzern des gesamten Eigentums, hat zur Folge, daß der Staat sich selbst korrumpiert, denn er muß ja ständig Vorrechte und parasitäre Funktionen schaffen.“ 

Natürlich konnte die neue Klasse nicht zulassen, daß ihre Methoden und Praktiken und deren zerstörerische Folgen thematisiert wurden. In keiner sozialistischen Verfassung, so Djilas, wurde der Inlandsgeheimdienst erwähnt, aber seine Macht war präsent, durchgreifend und den Menschen bewußt. Selbst der gutwilligste Kritiker, der das sozialistische Ideal von seinen Mißbräuchen und Verunreinigungen säubern wollte, wurde zum Staats- und Volksfeind erklärt. Das war systemisch folgerichtig, denn noch die kleinste Kritik stellte die „ideologische Einheit“ in Frage. Diese wiederum war die „geistige Basis“ für die Herrschaft der neuen Klasse. 

Hinter der vorgeblichen Verteidigung hehrer Grundsätze und Werte steckte letztlich der soziale und ökonomische Egoismus der roten Partei-Oligarchie’ Djilas’ Buch trägt den Untertitel „Eine Analyse des kommunistischen Systems“. Das Buch ist noch immer lesenswert, denn der analysierte Mechanismus ist, wie gesagt, systemübergreifend. Und zeitlos!