© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Am Zaun der Gethsemane-Kirche in Berlin-Pankow hängen unter der Losung „Wir waren Nachbarn“ zahllose Schilder mit den Namen und Berufen jüdischer Menschen, die hier einst zu Hause waren. Die so simple wie berührende Aktion angesichts des unvorstellbar unmenschlichen Geschehens, das sich hinter den unschuldig weißen Tafeln mit der schwarzen Frakturschrift verbirgt, ruft bei den Demonstranten gegen den Corona-Maßnahmestaat Empörung und höhnisches Kopfschütteln hervor. Steht doch auf der begleitenden Textafel unter der Mahnung „Gegen das Vergessen“ verallgemeinernd: „Unser Gedenken steht dafür, daß wir Nachbarn nie wieder ausgrenzen wollen. Wir stehen an ihrer Seite.“ Angesichts der expliziten Ausgrenzung durch die Kirche und der mit ihr verbundenen selbsternannten „Zivilkräfte“ zur Aufrechterhaltung des Corona-Maßnahmenstaates in den vergangenen Monaten, die sich gegen die „Vereinnahmung“ des Pflasters vor der Revolutionskirche von 1989 versammelt hatten, um die Kritiker der Corona-Politik ausdrücklich zu vertreiben, mutet das Bekenntnis tatsächlich befremdlich an. Aber wer weiß, vielleicht sind die Autoren dieser Aktion in Wirklichkeit Sympathisanten der Widerstandsszene?

Der smart auftretende „Vollzeitaktivist“ ist von einem ebenso unschuldigen wie heiligen Ernst erfüllt.

Dabei leben wir in der Zeitenwende. Tatsächlich treffen sich in derselben Straße zur selben Zeit in der „La Minga“-Bar die Extremisten der „Letzten Generation“, die unter der Schlagzeile „Angekommen in der Klimakatastrophe / Was wirst du tun?“ zur Rekrutierung aufgerufen haben. Unter dem freimütigen Versprechen „Komm & hör dir unseren Plan an“ versammeln sich so viele frömmelnde Jünger, mancher im Rentenalter, daß der Raum kaum alle fassen kann. Der smart auftretende „Vollzeit-

aktivist“ Tim, 26 Jahre, ist dabei, wie alle Köpfe der Klimareligion, von einem ebenso unschuldigen wie heiligen Ernst erfüllt. Es erscheint mir als die Sünde der Anmaßung, die – im Sinne göttlicher Strafe – bereits folgerichtig mit einem Todesopfer offenbar wurde. Unfreiwillig zynisch wirkt da die Selbstgewißheit des Aktivisten Tim: man werde niemals Menschen schädigen, um sich im gleichen Atemzug zu begeistern, wie man mit dem Tod der Radfahrerin „den Nerv“ getroffen habe angesichts der Reaktionen in der Bundesregierung. Auf kritische Nachfrage einer BIPoC-Aktivistin erklärt er: „Wir sind zwar eine sehr weiße Bewegung, benutzen aber diese Privilegien.“ Zur Frage der Akzeptanz der Klebeaktion warnt eine Publikumsstimme: „Der mündige Bürger ist viel mehr die Gefahr für die Blockierer als die Polizei.“ Tage danach im Café des Westsektors, wo ich mit C. sitze, tritt ein Jüngling der Aktion „Klimaneutral bis 2030“ an unseren Tisch und bittet um Unterschriften. Darauf fragt C. zurück, ob der feminin wirkende junge Mann schon mal beim Psychiater gewesen sei – schließlich handele es sich bei ihm und seinesgleichen um eine manifeste Angststörung. Der Sohn des Gastronomen daraufhin: „Man sollte diese Leute fragen: Wollt ihr die totale Neutralität, wollt ihr sie noch totaler und radikaler, als ihr sie euch überhaupt vorstellen könnt?“