© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Ist es demokratietheoretisch legitim, wenn das Parlament ein Gesetz erläßt, das Einwanderungsquoten vorschreibt?
Die Macht mißbrauchen
Lothar Fritze

Man stelle sich vor, das Parlament eines großen europäischen Landes verabschiedete ein Gesetz, wonach sich der Staat bereit erklärt, jedes Jahr eine Anzahl von Zuwanderern aus Afrika in Höhe von, sagen wir, fünf oder zehn oder auch zwanzig Prozent des jährlichen afrikanischen Geburtenüberschusses aufzunehmen. Laut UN-Bevölkerungsprognose wird die Einwohnerzahl Afrikas von 1,25 Milliarden im Jahr 2017 auf 1,7 Milliarden im Jahr 2030 und 2,5 Milliarden im Jahr 2050 steigen. Man nehme weiterhin an, der dafür zuständige Amtsträger – in Deutschland wäre dies der Bundespräsident – unterschriebe dieses Gesetz und es träte in Kraft. 

Ein Gesetz dieses Inhalts könnte regelkonform, also legal zustande gekommen sein. Sollten wir es aber – demokratietheoretisch gedacht – auch für legitim halten?

Demokratische Staaten legitimieren sich durch Zustimmung. Sie gelten dann als legitimiert, wenn eine Mehrheit oder eine qualifizierte Mehrheit der Staatsbürger (etwa eine Zweidrittelmehrheit) die konstitutiven verfassungsrechtlichen Grundsätze, einschließlich der Regeln der Gesetzgebung und der politischen Entscheidungsfindung anerkennt – und zwar entweder durch ausdrückliche Willensbekundung oder durch aktive staatsbürgerliche Beteiligung. Die Legitimität von Demokratien scheint daher ausschließlich auf einer Zustimmung zu den Regeln der Entscheidungsfindung zu beruhen und nicht auf einer Zustimmung zu den Entscheidungen selbst – sofern diese regelkonform getroffen wurden. In einem funktionierenden demokratischen Staat, so nimmt man an, sorgt die Akzeptanz der Verfahren der Entscheidungsfindung auch für die Akzeptanz der so zustandegekommenen Entscheidungen.

Diese Argumentation gilt zweifellos für den „Routinebetrieb“ des politischen Geschäfts, in dem es darum geht, das staatlich verfaßte Gemeinwesen mit seinen demokratischen Institutionen zu stabilisieren, Voraussetzungen für die Reproduktion der gesellschaftlichen Existenzgrundlagen zu schaffen und den Staatsbürgern ein möglichst selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Sicherheit zu ermöglichen. Gilt sie aber auch für den Fall, daß eine politische Elite in der Verfolgung einer eigenen, womöglich verborgen gehaltenen und von breiten Massen nicht geteilten Agenda die Schalthebel der Macht nutzt, um das Land, wie in unserem Gedankenexperiment angedeutet, in seinen ethnischen und kulturellen Beständen fundamental umzugestalten? Ist diese Argumentation auch dann überzeugend, wenn sich eine politische Klasse, so soll hier hypothetisch unterstellt werden, von der im Volk verbreiteten Art zu denken und zu leben gelöst hat und ihre Zukunftsvorstellungen auch gegen einen verbreiteten Widerwillen durchzusetzen versucht? Oder anders gefragt: Kann die Gestaltungsmacht einer Parlamentsmehrheit – abgesehen von verfassungsrechtlichen Sicherungen, die die individuellen Grundrechte in ihrem Wesenskern gewährleisten – tatsächlich in dem Sinne unbeschränkt sein, daß es nur auf ein regelkonformes Zustandekommen einer Entscheidung ankommt und sich Legitimität gänzlich unabhängig davon einstellt, was eigentlich entschieden wurde?

Demokratische Herrschaftssysteme legitimieren sich durch Willensbekundungen der wahlberechtigten Staatsbürger. Insofern geht in einer Demokratie alle Staatsgewalt vom Volke aus. Sie wird in Wahlen und Abstimmungen sowie vermittelst staatlicher Institutionen ausgeübt. Die Gestaltungsmacht des Souveräns wird dabei von auf Zeit gewählten Volksvertretern wahrgenommen. Die Macht der Repräsentanten des Volkes ist daher nur geliehene Macht, und von dieser Macht einen legitimen Gebrauch zu machen kann nicht bedeuten, den Willen eines großen Teiles des Volkes zu brechen. Die Geltung dieses Grundsatzes eines legitimen Machtgebrauchs ist unabhängig davon, daß in Demokratien mißliebige Regierungen abgewählt werden können und die Folgen getroffener Entscheidungen unter Umständen weitgehend reversibel sind.

Demokratische Politiker und Parteien haben die Aufgabe, den politisch noch nicht ausformulierten (vorpolitischen) Mehrheitswillen des Volkes in erreichbare Ziele zu übersetzen. Sie haben keinen Auftrag, eigene Ideen von gesellschaftlichem oder moralischem Fortschritt zu verfolgen und die ihrer Umsetzung dienenden Maßnahmen dem Wahlvolk zu oktroyieren. Sie haben auch kein Mandat, die gesamte Bevölkerung zu zwingen, an sozialen Experimenten mit schwer kalkulierbarem Ausgang teilzunehmen.

Ein repräsentativ-demokratisches Herrschaftsmodell, das der Parlamentsmehrheit und der Regierung das Recht einräumte, nicht nur in vergleichsweise untergeordneten Sachfragen, in denen die jeweils aktuellen Mehrheitsmeinungen ohnehin fragil und wechselhaft sein mögen, sondern in Grundfragen des Lebens und Zusammenlebens ganz eigenen Vorstellungen zu folgen und dabei das im Volk verwurzelte Denken sowie die kulturellen Üblichkeiten, die das gelebte Leben prägen, zu ignorieren, wäre für keinen Souverän zustimmungsfähig. Denn in bezug auf die elementaren Angelegenheiten des Lebens haben die meisten Menschen gefestigte, beständige und durchaus begründbare Überzeugungen, die zu mißachten oder auch nur aus einer selbstherrlichen Attitüde heraus geringzuschätzen kein Recht demokratisch gewählter Volksvertreter sein kann. 

Kritik am Überkommenen, an überlebten Traditionen et cetera ist selbstverständlich erlaubt, nur müssen sich neue Ideen in öffentlichen Diskussionen argumentativ durchsetzen; sie dürfen der Mehrheit nicht von einer gesellschaftlich dominierenden und sich subjektiv als Avantgarde fühlenden Minderheit oktroyiert werden. Ein politisches System, das es erlaubte, den Wählerwillen selbst in seiner elementaren vorpolitischen Form – nämlich insofern dieser allgemein-menschliche Grundbedürfnisse sowie das Interesse am Fortbestand der gewohnten Lebensweise und tradierten Kultur zum Ausdruck bringt – zu brechen, eine „Demokratie“, eine „Volksherrschaft“, zu nennen, wäre ein Widerspruch in sich. Zwar ist die repräsentative Demokratie auch ein System der Kompensation der Inkompetenz und der Unwilligkeit des Durchschnittswählers, im Interesse der Allgemeinheit zu votieren. Dies gilt allerdings nur für Fragen, in denen es auf Wissen ankommt und das Interesse eines Einzelnen von dem der Allgemeinheit abweicht. Es gilt nicht für jene elementaren Fragen, bei denen in Gemeinschaften großer ethnischer und kultureller Homogenität weitgehende Einigkeit besteht; es gilt nicht in bezug auf Entscheidungen, bei denen Realitätssinn, praktische Erfahrungen, Illusionslosigkeit und gemeiner Menschenverstand gefragt sind.

Damit ergibt sich folgendes Ergebnis: Fundamentale Umgestaltungen elementarer Lebenszusammenhänge, die den Interessen großer Teile des Volkes zuwiderlaufen und daher in einem informierten und aufgeklärten, also nicht durch die Propaganda „gleichgeschalteter“ Medien indoktrinierten, Wahlvolk keine qualifizierte Mehrheit fänden, sind selbst im Falle einer regelkonformen Entscheidungsfindung mit dem Gedanken der Volksherrschaft nicht vereinbar. (Wer gleichwohl glaubt, daß gesellschaftliche Umgestaltungen dieser Art – aus welchen Gründen auch immer – wünschbar oder erforderlich sein können und in solchen Fällen auch durchgesetzt werden sollten, sollte sich zu einem seiner Meinung nach dafür geeigneten nicht-demokratischen Herrschaftsmodell bekennen.) Zwar beruht die Legitimität der Demokratie (auch) auf einem Konsens über die grundlegenden Institutionen und die Regeln der Entscheidungsfindung, trotzdem kann es gewählten Politikern nicht erlaubt sein, beliebig einschneidende Maßnahmen ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den Souverän zu ergreifen – etwa die ethnische und kulturelle Zusammensetzung des Staatsvolkes in beliebigen Ausmaßen zu verändern oder tradierte und kulturprägende Lebensformen nach eigenem Belieben umzukrempeln – und damit den Repräsentationsgedanken ad absurdum zu führen.

Menschen streben nicht nur nach Befriedigung kultur­invarianter Grundbedürfnisse. Für sie ist ebenso die Art zu leben wichtig, die Lebensform. Menschliches Leben ist geprägt von historisch gewachsenen Beziehungsgeflechten. Die Anmaßung einer Minderheit, „gesellschaftlichen Fort-schritt“ nach eigenem Gutdünken und über die Köpfe der Menschen hinweg in die Wege leiten zu können, gepaart mit einer machtversessenen Selbstherrlichkeit, fördert die Spaltung der Gesellschaft und untergräbt Bedingungen, die ein demokratisches Gemeinwesen auszeichnen und allererst ermöglichen. Fundamentale Richtungsentscheidungen, Entscheidungen, die zu grundlegenden Eingriffen in die etablierte Lebensform, die Kultur und Sprache führen, kann kein Volk an auf Zeit gewählte Repräsentanten delegieren, ohne seine Souveränität preiszugeben – ohne sich von der Idee der demokratischen Selbstbestimmung zu verabschieden.

In einem freiheitlichen Staat kommt es daher nicht nur auf die Regelkonformität des Zustandekommens von Entscheidungen an. Es gibt Entscheidungen, die aufgrund ihres Potentials, das gesamte Leben und Zusammenleben zu verändern, nicht ohne Zustimmung des Volkes getroffen werden sollten. Kein Konsens über Verfahren der Repräsentation kann legitime Entscheidungen garantieren, der es gewählten Repräsentanten und damit einer (staatlich gesponserten) politischen Kaste ermöglicht, eine ganz eigene Agenda politisch durchzusetzen, die den erkennbaren Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit, ja auch nur einer qualifizierten Minderheit widerspricht, also letztlich den Willen des Volkes bricht.

Gemessen an diesen Überlegungen nimmt sich die in Deutschland dominierende Elite Rechte heraus, die ihr nicht zustehen. Man weiß, daß manche Weichenstellungen, die das Land auf neue Schienen setzen und die Gesellschaft ohne Not in eine gänzlich andere Zukunft führen, in einer Volksabstimmung nicht goutiert würden – und trotzdem werden sie vorgenommen. Themen, von deren öffentlicher Diskussion sich die herrschende politische Klasse keine Vorteile verspricht, werden aus Wahlkämpfen bewußt herausgehalten; die Artikulation unliebsamer Meinungen wird behindert und Vertreter solcher Meinungen werden durch Stigmatisierung, Verächtlichmachung und Ausgrenzung bestraft. 

Im Ergebnis wird die rationale Urteilsbildung der Wählerschaft behindert, deren Willensbildung manipuliert, und Wahlentscheidungen werden in unzulässiger Weise beeinflußt. Ein demokratischer Staat, in dem sämtliche relevanten Institutionen intakt sein mögen, hörte auf, eine Demokratie im Sinne einer Volksherrschaft zu sein, wenn die gewählten Volksvertreter ihre Macht nutzten, um ohne ausdrückliche Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit die Zusammensetzung des Demos, also der verfassungsgebenden Gewalt, signifikant zu verändern – und damit nicht zuletzt auch auf zukünftige Wahlen Einfluß zu nehmen. Ein derart folgenreicher Eingriff entmachtete den Souverän, dem die Repräsentanten ihre geliehene Macht verdanken und wäre mit der Souveränität des Volkes unvereinbar.






Prof. Dr. phil. habil. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, 1993 bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, lehrte als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Wichtige Buchveröffentlichung: „Angriff auf den freiheitlichen Staat“, Basilisken-Presse, Marburg an der Lahn 2020.