© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Kurzer Frühling eines Visionärs
Vor fünfzig Jahren feierte Willy Brandt bei der Bundestagswahl den größten Erfolg für die SPD
Erik Lommatzsch

Die Sache mit den vielfach sichtbaren Buttons und Aufklebern war neu. Gern zeigte man im Vorfeld der Bundestagswahl vom 19. November 1972, wem die eigene Stimme zukommen sollte. Die Parole „Willy wählen“ war da oft zu lesen. Die SPD hatte ihren Wahlkampf ganz auf ihren Spitzenkandidaten Willy Brandt zugeschnitten, für den es um die Bestätigung seiner Kanzlerschaft und seiner Politik ging. Ein Button mit der Aufschrift „Rainer wählen“ wurde hingegen nirgendwo gesichtet. Rainer Barzel, der Gegenkandidat von der Union, hatte von Anfang an einen schweren Stand. Die wahrnehmbaren und medial freundlich begleiteten Sympathien lagen eindeutig bei Brandt. Das öffentliche Bekenntnis zur CDU konnte schon einmal dazu führen, daß man als Frau in der Straßenbahn angespuckt wurde oder an seinem mit einer entsprechenden Werbung versehenen Auto zerstochene Reifen vorfand.

Die Bundestagswahl war auch ein Plebiszit über die Ostverträge

Bei dieser emotional in bislang unbekanntem Ausmaß aufgeladenen Bundestagswahl gaben 91,1 Prozent der Berechtigten ihre Stimme ab. Mit 45,8 Prozent erzielte die Sozialdemokratie auf Bundesebene ihr bisher bestes Ergebnis. Daß die Union mit 44,9 Prozent nicht einmal einen Zähler dahinter lag, fiel nicht ins Gewicht, da die Fortsetzung der sozialliberalen Koalition ohnehin angestrebt war und die FDP mit 8,4 Prozent im Vergleich zur vorangegangenen Wahl einen für ihre Verhältnisse erheblichen Zuwachs verzeichnen konnte. 

Bei der Wahl vom 19. November 1972 handelte es sich auch um die erste vorgezogene Neuwahl eines Bundestages. Brandt stand seit 1969 an der Spitze eines Bündnisses von SPD und FDP. Dessen Ostpolitik hatte von Anfang an polarisiert. In den 1950er Jahren hatten Vertreter der Sozialdemokratie der Einheit der Nation noch unbedingte Priorität eingeräumt, während Adenauer mit seiner Westbindungspolitik andere Präferenzen erkennen ließ. 

Nun war es die SPD, die, abgestützt durch den Partner FDP, auf „Entspannung“ und Vereinbarungen mit dem Ostblock setzte, während die Union gegen Verzicht und Preisgabe ankämpfte und befürchtete, das Ziel der Einheit Deutschlands rücke in eine diffuse Ferne. 1970 waren der Warschauer Vertrag, der die Oder-Neiße-Linie als Grenze de facto bestätigte, sowie der Moskauer Vertrag ausgehandelt worden. Der Bundestag hatte diese beiden Ostverträge jedoch noch nicht bestätigt. Brandts Koalition verfügte von Anfang an nur über eine Mehrheit von zwölf Stimmen. Vor allem die Ostpolitik sollte es sein, die eine Reihe von Parlamentariern der Regierungskoalition zum Wechsel ins Lager der Opposition bewegte. So traten etwa Erich Mende von der FPD und der SPD-Abgeordnete Herbert Hupka, zugleich Präsident der Landsmannschaft Schlesien und Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen, zur CDU über. 

Bestärkt durch den fulminanten Wahlsieg Hans Filbingers, der bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 23. April 1972 für die CDU die absolute Mehrheit erringen konnte, und in der Annahme, daß Brandt durch Parteiwechsel und Stimmenverweigerung im eigenen Lager die Mehrheit verloren habe, beantragte die Union ein konstruktives Mißtrauensvotum. Mit der Abstimmung vom 27. April 1972 sollte der Oppositionsführer Rainer Barzel Brandt als Kanzler ablösen. Der CDU-Politiker rechnete mit 250 Stimmen, 249 hätte er gebraucht – da er nur 247 erhielt, scheiterte der Regierungswechsel. Bei allen wohl dauerhaft verbleibenden Unklarheiten gilt es als erwiesen, daß die DDR, die Brandt im Amt halten wollte, zwei Unionsabgeordneten Bestechungsgelder zukommen ließ. 

Wie sich bei einer späteren Sachabstimmung zeigte, hatte die SPD/FDP-Regierung ansonsten ihre Mehrheit verloren, es kam zu einem Patt. Folglich ergab sich zwingend die Notwendigkeit von Neuwahlen. Am 17. Mai 1972 stand aber zunächst die Frage der Ratifizierung des Warschauer sowie des Moskauer Vertrages auf der Tagesordnung. Um sich Spielräume nach einem erwarteten Sieg bei der anstehenden Bundestagswahl zu sichern, hatte Barzel auf eine „gemeinsame Entschließung“ mit der Regierung Brandt hingearbeitet, die eine Art Vorbehalt darstellte und damit der Union nun doch die Zustimmung ermöglichen sollte. Seine Fraktion folgte ihm jedoch nicht, sie enthielt sich zum großen Teil, wenige Abgeordnete votierten gegen die Verträge. Damit war letztlich zugunsten der beiden Ostverträge entschieden. Barzel, bereits erheblich angeschlagen durch das gescheiterte Mißtrauensvotum, hatte hier eine denkbar schlechte Figur gemacht, die Position seiner Fraktion war nicht mehr erkennbar. 

Der SPD, die im Umfeld des Mißtrauensvotums vom April noch im Umfragetief gewesen war, gelang es, ihre Ostpolitik gegenüber dem Wähler als Erfolgsfaktor darzustellen; wenige Tage vor der Abstimmung war noch der Grundlagenvertrag mit der DDR paraphiert worden. Einer Umfrage aus diesen Tagen zufolge äußerten sich 82 Prozent der Bevölkerung zustimmend zur Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. Innenpolitische Themen waren im Wahlkampf kaum relevant, der Terrorismus etwa schien zu dieser Zeit gebannt, Baader, Meinhof und andere saßen in Haft. Vor allem aber wurde Willy Brandt äußerst erfolgreich in den Mittelpunkt der gut organisierten SPD-Kampagne gestellt. 

Das gesenkte Wahlalter spielte den Sozialliberalen in die Karten

Der Friedensnobelpreisträger von 1971 erfuhr irrational-ikonische Verehrung, von „Tränen in den Augen“ älterer Frauen, die Brandt berühren wollten und ihm „sogar Rosenkränze und Amulette“ zu geben versuchten, berichtete die Süddeutsche Zeitung. Als Urbild des „moralischen Politikers“ schlechthin wurde der Kanzler hochgeschrieben, im Spiegel war von „festen Grundsätzen, an dessen Lauterkeit nicht einmal seine Gegner zweifeln“, die Rede, Barzel hingegen sei der „unsympathische Prototyp des aalglatten Ehrgeizlings“. Nicht zum ersten Mal engagierten sich zudem Künstler, vor allem Schriftsteller wie Günter Grass oder Siegfried Lenz für die SPD, Zeithistoriker wie Arnulf Baring und Eberhard Jäckel trommelten ebenfalls mit. Bereits 1970 war das aktive Wahlrecht von 21 auf 18 Jahre gesenkt worden, was den Kreis der Stimmberechtigten um 2,5 Millionen ausweitete und Brandt zugute gekommen sein dürfte. Das Wahlergebnis von 1972 wird bis heute auch in der Geschichtswissenschaft als „Plebiszit“ für die sozialliberale Ostpolitik angesehen. 

Die Euphorie, die die SPD/FDP-Regierung mit ihrer Veränderungs-, Reform- und Machbarkeitsbegeisterung insgesamt zumindest zeitweise zu wecken in der Lage war, wurde bald gedämpft, auch bedingt durch die internationale Lage. So waren schon 1973 schwere ökonomische Verwerfungen zu verzeichnen, verbunden wird das Jahr etwa mit dem „Ölpreisschock“. Daß Brandt den Anforderungen seines Amtes nicht gewachsen war, bei genauerer Betrachtung von Anfang an, trat zudem immer offener zutage. Eine von konservativer Seite angestrebte „Tendenzwende“, eine Gegenströmung zu den im Zuge von „1968“ verfolgten Ideen und der entsprechenden Politik, sollte allerdings in den Folgejahren versanden.