© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

„… und bin doch selbst ein Schiff in Not!“
Zwischen Ruinen und zerbrochenen Werten unverbrauchte Worte finden: Vor 75 Jahren starb der Schriftsteller Wolfgang Borchert
Günter Scholdt

Die Eckdaten von Wolfgang Borcherts nur 26jähriger Biographie lauten „Geboren am 20.5.1921 in Hamburg, gestorben am 20.11.1947 in einem Basler Spital“. Seine so lebenshungrige Existenz, in der ein verbummelter Schüler eine künstlerisch motivierte Jugendrevolte ausfocht und nach abgebrochener Buchhandelslehre die Schauspielerlaufbahn einschlug, verwirklichte sich bald nur mehr in einer Unglücksspirale. Bereits mit 20 Jahren stand er als Soldat in Rußland, erlitt schwere Verwundungen und Infektionen (erfrorene Füße, Gelbsucht und Diphterie), die den frühen Tod prädestinierten. Sein Nonkonformismus verursachte Anklagen vor Militär- und staatlichen Gerichten, monatelange U-Haft, Todesangst. Einzig die Erwartung hielt ihn aufrecht, einmal zum „Eigentlichen“ aufbrechen zu können. 

Doch als der Krieg zu Ende war, verblieben kaum mehr als zwei Jahre eines unsäglichen gesundheitlichen Martyriums, um zwischen ständigen Fieberschüben, Schmerzen und Geldnöten seinem beschädigten Körper in Schaffensräuschen das abzutrotzen, was seine Zeit bewegte. Eine Kur in der Schweiz sollte Rettung bringen. Aber ihm war nicht mehr zu helfen. Und er starb auch noch einen Tag bevor sein Dramenerstling eine weithin gefeierte Premiere erlebte. Solch tragisches Schicksal macht ihn in besonderem Maße zum Vertreter einer „verlorenen“ Generation. 

Er repräsentierte sie in Stil und Lebensgefühl, obwohl er nur ein schmales Werk an Kurzgeschichten, Gedichten, Manifesten und ein Hör- bzw. Schauspiel publizierte – alles in allem einen mittleren Band. Das Heimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“ in seiner Mischung aus Landserjargon und vergeblicher Gottsuche sprach den Kriegsjahrgängen geradezu aus der Seele. Alfred Andersch nannte die frühe ästhetische Orientierung der „Gruppe 47“ „Borchertismus“. Unser Verständnis von „Trümmerliteratur“ geht wesentlich auf Borchert zurück: jene nach dem Krieg dominierende Tendenz der Jungen, zwischen Ruinen und zerbrochenen Werten unverbrauchte Worte zu finden und sich illusions- wie schmucklos ihrer Not zu stellen.

Wie die meisten ernstzunehmenden Autoren lernte auch der Vielleser Borchert intertextuell, ließ sich von expressionistischen wie neusachlichen Techniken oder amerikanischen Short Storys anregen. Doch die Qualität seiner Autorschaft gründet vornehmlich in einem ganz spezifischen Ton, der Lakonie mit Gefühl authentisch verbindet. Mißtraute er doch „literarischen“ oder „journalistischen“ Schreibposen ohne „innere Notwendigkeit“. Das macht Geschichten wie „Die Hundeblume“, „Das Brot“, „Der viele, viele Schnee“ oder „An diesem Dienstag“ zu unverwechselbaren Klassikern. Und es kennzeichnet bereits die besten seiner im Krieg geschriebenen Gedichte wie „Brief aus Rußland“ oder „Der Mond lügt“ (Moabit). 

Charakteristisch sind bei aller Ablehnung überkommener religiöser und humanitärer Illusionen („Versuch es“) vereinzelt auch Lichtblicke. In schlimmer Hungerzeit singt „Das Brot“ ein Hohelied weiblicher Gattenliebe. In „Schischyphusch“ wirkt tröstender Humor. Hamburgs Zerstörung und das Nachkriegselend veranlaßten ihn zu lokalpatriotischen Äußerungen der Zuversicht. Borchert war ein Nihilist, der widerlegt werden wollte, und bei aller Verzweiflung flackerte bis zuletzt ein Fünkchen Hoffnung.

75 Jahre nach seinem Tod ist dieser millionenhaft verbreitete (Schulbuch-)Autor keineswegs vergessen, regt weiter zu Analysen, Biographien und Editionen an. Zahlreiche Schulen, Gedenksteine, ein Theater und ein Fährschiff tragen seinen Namen. Man feiert ihn zu Jubiläumsanlässen, und eine internationale Literaturgesellschaft wahrt seinen Nachruhm. Zu den Gründen dieser fortdauernden Popularität gehört auch eine gewisse Zeitgeistkompatibilität. Seine Rebellion gegen NS-Zwänge, Verfolgung und Kriegsgegnerschaft förderten sein Image als literaturdidaktische Vorzeigefigur und pazifistischer Stichwortgeber diverser Friedensbewegungen. Im Kontext von Wiederbewaffnung oder dem Nato-Doppelbeschluß inszenierte man dutzendfach das Antikriegsdrama „Draußen vor der Tür“. Sein Manifest „Dann gibt es nur Eines“ gipfelt für den Fall erneuter Mobilisierung im stakkatohaften Refrain „Sag NEIN!“, ein Motto, das auch Gedenksteine ziert. 

„Trümmerliteratur“ geht wesentlich auf Borchert zurück

Ob das zur gegenwärtigen „Zeitenwende“ paßt, in der jenes Borchert preisende einst urpazifistische Milieu, das aktuell Deutschland dominiert, die lautesten Kriegstrompeten bläst, darf man bezweifeln. Doch Geschichte neigt eben manchmal zu ironischen Pointen. Andererseits folgen selbst Borcherts politische Manifeste keiner schlichten Reeducation-Agenda, sondern einer Gefühlsexplosion und kümmern sich nicht um politische Korrektheit. 

In „Das ist unser Manifest“ forderte dieser Rebell zwar „Helm ab!“ und versicherte, nie mehr „auf einen Pfiff hin“ anzutreten. Aber das galt auch bezüglich ideologischer Kommandos, die zu bruchlos mit den Interessen alliierter Sieger verschmolzen. Das hat ihm von orthodoxen Tugendwächtern wie Jan Philipp Reemtsma den Vorwurf eingebracht, seine (pubertäre!) Larmoyanz gelte nur deutschem Leid und seine gleichgesinnten Anhänger seien ihm darin im Wunsch nach Selbstentlastung gefolgt. 

Nun, einer, dessen kurzes Leben vor allem Krieg, Angst und schwere Gesundheitsbeschädigung bestimmten, ließ sich nicht so leicht einreden, er habe sich im Sinne einer Kollektivmoral auch noch schuldig zu fühlen oder ein Entnazifizierungsfragebogen fördere Freiheit. In der Erzählung „Billbrook“ konfrontierte er einen ahnungslosen kanadischen Fliegerfeldwebel mit dem, was Bomber in Hamburg angerichtet hatten. Er proklamierte eine „Generation ohne Abschied“, aber keinen mitleidlosen Kehraus und Bewältigungsfuror. Auch dieser Borchert verdient unsere Achtung in seiner sympathischen Selbsteinschätzung: „Ich möchte Leuchtturm sein … für jedes Boot – / und bin doch selbst / ein Schiff in Not!“ 






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Historiker und Germanist und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß