© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Hunderttausende saßen in der Falle
Operation Uranus: Vor achtzig Jahren wurde die 6. Armee mit über 250.000 Soldaten in Stalingrad eingekesselt
Dag Krienen

Der Ende Juni 1942 eingeleitete Vorstoß der Wehrmacht zur Wolga und in den Kaukasus hatte zum Ziel gehabt, die Sowjetunion von wichtigen Rohstoffquellen abzuschneiden sowie die Wolga als zentralen Verkehrsweg zu sperren. Ursprünglich sollte die Heeresgruppe Süd zur Wolga bei Stalingrad vorstoßen und erst danach in den Kaukasusraum eindringen. Doch befahl Hitler im Juli, beide Vorstöße gleichzeitig durchzuführen. Die Heeresgruppe Süd wurde in zwei Gruppen A und B aufgespalten und der Gruppe B am 23. Juli der Auftrag erteilt, Stalingrad zu erobern und die Wolga zu sperren. (JF 28/22).

Für die gleichzeitige Ausführung beider Aufgaben reichten die deutschen Kräfte nicht hin. Beide Heeresgruppen erzielten zwar große Raumgewinne, blieben jedoch vor Erreichen der ihnen gesteckten Endziele stecken. Der 6. Armee der Heeresgruppe B gelang es immerhin, Mitte August im Donbogen bei Kalatsch zwei sowjetische Armeen zu vernichten und knapp nördlich von Stalingrad bis zur Wolga durchzustoßen. Ein weiterer Zangenangriff vermochte es jedoch nicht, die vor Stalingrad stehenden sowjetischen Truppen zu umfassen und zu vernichten. Die befestigte Stadt an der Wolga verfügte so über ausreichend Verteidiger, um die geplante schnelle Wegnahme verhindern zu können.

In den ersten Septemberwochen fielen auf beiden Seiten wichtige Entscheidungen. Stalin hatte bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder neue Angriffe mit allen jeweils verfügbaren Kräften gegen die vorrückenden deutschen Truppen befohlen, die mit hohen Verlusten scheiterten. Auf der Lagesitzung der Stavka, dem obersten sowjetischen Hauptquartier, am 12. September 1942 ließ er sich schließlich von seinem Chef des Generalstabs, Alexander Wassilewski und dem Stellvertretenden Oberbefehlshaber, Georgi Schukow, dazu überreden, von einem weiteren besinnungslosen Anrennen abzusehen. Schukow konnte den Diktator davon überzeugen, starke eigene Kräfte zurückzuhalten und nordwestlich und südöstlich von Stalingrad zu sammeln, um damit im November zu einer großen Gegenoffensive gegen die deutsche Front überzugehen (JF 27/17). Stalingrad selbst sollte allerdings weiterhin hartnäckig verteidigt werden, um deutsche Kräfte zu binden. 

Zur selben Zeit dämmerte Hitler allmählich, daß er seine strategischen Ziele im Jahre 1942 nicht mehr erreichen würde. Als er am 12. September den Oberbefehlshaber der 6. Armee, Generaloberst Paulus, empfing, ließ Hitler sich darauf ein, daß es im Herbst 1942 nur noch darum gehen konnte, durch begrenzte Vorstöße eine geeignete „Winterstellung“ an Don und Wolga zu erreichen – nach dem Fall von Stalingrad.

Bis Mitte September hatte die 6. Armee große Teile des Stalingrader Stadtgebietes einnehmen können und war an mehreren Stellen bis zum Wolga-Ufer durchgestoßen. So zeichnete sich ab, daß der Kampf um die verbliebenen Teile der Stadt sich zu einem zähen Häuserkampf entwickeln würde, der sich noch monatelang hinziehen konnte. Viele deutsche Militärs bezweifelten, ob sich ein solch verlustreicher Kampf überhaupt noch lohnen würde. Als Industrie- und Rüstungszentrum war Stalingrad ausgeschaltet und die Wolga als Verkehrsweg bereits faktisch gesperrt. Doch Anfang Oktober erklärte Hitler die „völlige Inbesitznahme“ Stalingrads zum wichtigsten Ziel der 6. Armee. Der „Führer“ wurde zunehmend zum Gefangenen seiner eigenen Propaganda. Am 8. November 1942 verkündete er im Münchner Löwenbräukeller vor alten Parteigenossen sogar, man habe die Stadt bereits eingenommen und das zentrale strategische Ziel erreicht: „Es kommt kein Schiff mehr die Wolga hoch.“ Der Feind halte in der Stadt „nur noch ein paar ganz kleine Plätzchen“, deren Eroberung keine Eile habe.

Ganz falsch lag er nicht. Tatsächlich hatte zu diesem Zeitpunkt die Wehrmacht mehr als 90 Prozent des Stadtgebietes erobert. Die Rote Armee hielt nur noch zwei schmale Uferstreifen an der Wolga, die noch per Barken über den Strom versorgt und von der auf dem anderen Ufer stehenden Artillerie gedeckt wurden. Sie zahlte für die Verteidigung Stalingrads allerdings mit 400.000 Mann an blutigen Verlusten einen hohen Preis. Aber auch die 6. Armee mußte vom 20. August bis zum 20. November Verluste von 60.000 Mann (15.000 Tote und Vermißte sowie 45.000 Verwundete) hinnehmen. 

Die Flanken waren nur durch schwache Verbände gesichert

Ihre militärische Lage wurde indes aus einem anderen Grund immer prekärer. Bereits bei der Vorbereitung des Unternehmens Blau war die umfangreiche Verwendung von Streitkräften der Verbündeten (Rumänien, Ungarn und Italien) im Feldzug von 1942 vereinbart worden, denen aus politischen Gründen der Einsatz ihrer Verbände in geschlossenen nationalen Armeen zugestanden werden mußte. Deshalb wurden die Nordwestflanke und die Südostflanke der 6. Armee durch Divisionen der 3. und 4. rumänischen Armee gedeckt, deren Ausrüstung, insbesondere mit schweren Panzerabwehrwaffen, und Beweglichkeit sehr zu wünschen ließ und die viel zu große Frontabschnitte zu verteidigen hatten. Hinter diesen standen zudem kaum deutsche Panzer- und motorisierte Verbände als Eingreifreserven zur Verfügung. Die meisten waren in Stalingrad gebunden.

Schukow hatte bereits in der Besprechung mit Stalin am 12. September vorgesehen, als Einleitung der großen sowjetischen Gegenoffensive die rumänischen Flankendeckungen zu durchbrechen. Die Planungen und die militärischen Vorbereitungen für die „Operation Uranus“ genannte Großoffensive zur Einkesselung Stalingrads konnten tatsächlich, wie von ihm veranschlagt, bis Mitte November abgeschlossen werden. Der Aufmarsch erfolgte möglichst verdeckt und bei Nacht. Da Schukow nicht bereits durch sein persönliches Mitwirken die Aufmerksamkeit der feindlichen Aufklärung auf die Operation ziehen wollte, gab er das Kommando an die Generale Andrej Jeremenko und Konstantin Rokossowski ab. Gleichzeitig bereitete die Stavka unter Schukows Regie auch eine Großoffensive im Bereich der Heeresgruppe Mitte („Operation Mars“) vor, die lange Zeit das Augenmerk der deutschen Abwehr unter Reinhard Gehlen beanspruchte. Erst ab dem 7. November meldete Gehlen auch größere sowjetische Angriffsvorbereitungen bei Stalingrad, ohne ihren vollen Umfang zu erkennen. Hitler und die deutschen Generäle waren sich einer Bedrohung der Flanken bei Stalingrad zwar bewußt gewesen, doch als am 19. November die sowjetische Großoffensive begann, stellte diese „nach Zeitpunkt und Kräfteaufgebot letzten Endes doch eine höchst peinliche Überraschung“ für das deutsche Oberkommando und die Heeresgruppe B dar. 

An diesem Tag verfügten die drei für die Operation Uranus vorgesehenen Fronten der Roten Armee über 1,13 Millionen Soldaten, bis zu 1.500 Panzer, jede Menge Artillerie samt 1.400 Raketensalvengeschützen („Stalinorgeln“) sowie 1.500 Flugzeuge. Die 6. Armee und 4. Panzerarmee und die 3. und (der 4. Panzerarmee unterstellte) 4. rumänische Armee verfügten zu diesem Zeitpunkt über rund 400.000 deutsche und 150.000 bis 200.000 rumänische Soldaten, 326 deutsche und 132 leichte rumänische Panzer sowie 732 deutsche und einige Dutzend rumänische Flugzeuge. Diese Kräfte hätten trotz der numerischen sowjetischen Überlegenheit eventuell noch ausgereicht, die sowjetische Offensive aufzufangen, wenn sie besser verteilt und aufgestellt gewesen und nicht bis zur letzten Minute bei Stalingrad massiert worden wären. 

So aber konnte die Rote Armee ihre starken Panzerverbände gegen wenig kampfkräftige rumänische Divisionen konzentrieren, die oft 30 Kilometer Frontlinie zu verteidigen hatten, während ihre eigenen Angriffsdivisionen in den Durchbruchssektoren auf einer Breite von 1,8 bis 3,5 Kilometer angriffen. Der Durchbruch an der Südwestfront im Nordosten gelang den Sowjets noch am 19. November, der Angriff und Durchbruch im Südwesten in der Kalmückensteppe fand am Tag darauf statt. Die Angriffsspitzen beider sowjetischer Vorstöße kamen rasch voran; Gegenaktionen der schwachen und zerstreuten mobilen deutschen Truppen konnten nicht verhindern, daß die von Norden kommenden Truppen der sowjetischen Südwest-Front am Morgen des 23. Novembers die Donbrücke bei Kalatsch am Donbogen einnahmen und sich noch am selben Tag mit dem aus dem Südosten vorstoßenden IV. mechanisierten Korps vereinigten. Damit war die 6. Armee in Stalingrad eingeschlossen, auch wenn es ihr vorerst gelang, ein großes Vorfeld westlich der Stadt zu behaupten. Geschwächt, aber als Kampfverband noch halbwegs intakt, war sie militärisch noch nicht am Ende. Doch war die Zukunft der im Kessel befindlichen 265.000 Soldaten und rund 40.000 russischer „Hilfswilliger“ ungewiß. 

Foto: Sowjetische Panzer und Infanterie stoßen westlich von Stalingrad vor, November 1942: Sowjetische Angriffsspitzen kamen in der Steppe zwischen Wolga und Don rasch voran