© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/22 / 18. November 2022

Der Flaneur
Glücklich werden
René Langner

Morgen geht es wieder los. Nach dem wohlverdienten Urlaub kehrt für mich der Alltag mit all seinen Aufgaben und Herausforderungen zurück. Da diese Gedanken an unserem Frühstückstisch nicht wirklich für Begeisterung sorgen, versuche ich unser Gespräch in positive Bahnen zu lenken. „Was wollt ihr einmal werden?“, will ich wissen. „Keine Ahnung“, raunzt mein Sohn mich an. Meine Tochter zieht es vor, zu schweigen. Woran kann es liegen, daß nicht nur meine Motivation, sondern auch die der Kinder tief im Keller steckt? Ist es unsere leistungsorientierte Gesellschaft, die uns oftmals dazu zwingt, wirklich alles zu unternehmen, um den stetig steigenden Anforderungen zu entsprechen? 

Am Abend beim Zubettbringen sagt meine Tochter, sie wisse jetzt die Antwort.

Fakt ist, nicht nur Erwachsene, auch Kinder leiden häufig unter einem enormen Leistungsdruck und sind nicht selten überfordert. Sollten die Jüngsten zudem feststellen, daß ihnen die Eltern aufgrund der knappen Zeit nur noch wenig Beachtung schenken und dauerhaft gestreßt sind, erkennen diese schnell, daß hier etwas nicht ganz stimmen kann. Keine Frage, natürlich bedarf es alltäglicher Strukturen und klarer Vorgaben, besonders in der Schule und dem Elternhaus. Wer sich aber darauf einläßt, ab und an das Korsett von Pflichten und Erwartungen zu verlassen, wird sicherlich mit Kreativität, Freude und neuer Energie belohnt.

Dies gilt natürlich nicht nur für den Nachwuchs. Denn sind wir einmal ehrlich, in aller Regel leben auch wir den ganzen Tag, ohne wirklich innezuhalten. Doch schon Goethe ließ uns wissen: „Wir haben Zeit genug, wenn wir sie nur richtig nutzen.“ Gönnen wir uns also Augenblicke der Muße und des „Nichts-Tuns“, um dadurch ein Gespür für die Zeit zu erhalten. Nicht die Zeit der Uhren, sondern vielmehr die Zeit der Gegenwart in Momenten von Ruhe und Gelassenheit. Wer weiß, vielleicht gelingt es am Ende so viel besser, wieder mit voller Kraft und Zuversicht all die neuen Aufgaben anzugehen, die das Leben für uns bereithält. Am Abend bringe ich meine Tochter ins Bett. „Papa, ich weiß, was ich mal werden will“, läßt sie mich wissen. Auf meine Frage, was genau es ist, entgegnet sie nur: „glücklich“.