© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Hundert Mann und kein Befehl
Verpaßte Zeitwende: Eine kafkaeske Bürokratie blockiert weiterhin die nötige Aufrüstung der Bundeswehr
Konstantin Fechter

Als sich die russischen Besatzer vor wenigen Tagen aus der Seehafenstadt Cherson zurückzogen, exhumierten sie hastig die Gebeine des Feldmarschalls Gregor Alexandrowitsch Potemkin (1739–1791), um diese nicht länger im Staatsgebiet der Ukraine ruhen zu lassen. Die Ironie, daß sich Putin im Moment des Scheiterns seiner großrussischen Illusionen ausgerechnet an die Knochen jenes Fürsten klammert, welcher einer Legende nach für die sprichwörtlichen Attrappendörfer mit blenderischer Absicht steht, muß nicht näher erläutert werden. 

Doch Hohn und Häme über den von Mißerfolgen gezeichneten Feldzug Rußlands sind auf deutscher Seite unangebracht. Am allerersten Tag der Offensive mußte der Inspekteur des Heeres öffentlich kundgeben, die Bundeswehr stehe „mehr oder weniger blank da“. Desaströse Zustände beim Material, Munitionskontingente für gerade einmal drei Tage Landesverteidigung und eine angespannte Personallage waren jedem, der es wissen wollte, längst bekannt. 

Doch inmitten des Zerfalls der europäischen Friedensordnung sorgte dieses Bekenntnis zur Realität erstmals für ein Schaudern bei vielen Bürgern. Sicherheit, das waren immer die anderen. Als außenpolitische Trittbrettfahrer hatten sich die Deutschen gemütlich eingerichtet im Windschatten amerikanischer Hegemonie. Unter einer Armee verstand man eine Art bewaffnetes Technisches Hilfswerk, die Brunnenbohrer mit Schutzausstattung für besonders harte Fälle der Zivilisationsbeglückung. Daß regelmäßig Särge aus Afghanistan zurückkehrten, war nicht weiter von Interesse. 

Noch im Oktober 2014, mehrere Monate nach der gewaltsamen Annexion der Krim, forderte eine Margot Käßmann die Abschaffung der Bundeswehr. Deutschland müsse mehr „wie Costa Rica“ werden. Sollte sie darunter den sich schrittweise vollziehenden Wandel zur Bananenrepublik verstanden haben, ist der ehemaligen Landesbischöfin eine nahezu prophetische Gabe zu attestieren.  

Denn der desolate Zustand der Bundeswehr ist Teil einer staatsgefährdenden Erosion von Behördenkompetenz. Das Errichten potemkinscher Fassaden, die bei eingehender Betrachtung einen Zustand innerer Verwahrlosung offenbaren, ist längst fester Bestandteil der bundesdeutschen Politik und der davon abhängigen Institutionen geworden. 

Vor diesem Hintergrund sind auch die Aussagen des Kanzlers zu verstehen. Scholz versprach nicht weniger als eine „Zeitenwende“ und neue Kriegstauglichkeit Deutschlands. Diese an die martialische „Bazooka“-Rhetorik eines Mario Draghi erinnernde Sprache der Entschlossenheit mag ein gutes Sedativum für die erregte öffentliche Meinung sein, doch an den grundlegenden Fähigkeitslücken der drei deutschen Teilstreitkräfte ändert sich dadurch nur wenig. 

Jahrzehntelange Unterfinanzierung und eine kaum mehr zu bewältigende Auftragslast haben zwar das Improvisationstalent der Kompaniechefs gefördert, aber jedes tragfähige Wehrkonzept ad absurdum geführt. Stattdessen wird die Mangelwirtschaft durch ein selbstreferentielles Bürokratieungeheuer verwaltet, welches mehr den grauen Korridoren eines Kafka-Romans entsprungen zu sein scheint, als Hilfestellung im Alltag der übenden Kampftruppe gibt. Die eingeschränkte Abwehrbereitschaft der Bundeswehr ist auch besonders bitter, weil die Armee nach wie vor über ein hervorragend ausgebildetes Offizier- und Unteroffizierkorps verfügt. Dieses erwirbt auf internationaler Arbeitsebene permanent hohe Anerkennung. Die Nato-Partner schütteln nicht etwa über die Fähigkeiten der deutschen Soldaten den Kopf, sondern darüber, daß diese mit veralteter Ausstattung bei Großübungen erscheinen und dort nicht in einen modernen kryptierfähigen Funkkreis integriert werden können. 

Je offensichtlicher die Misere, desto größer wird die Bereitschaft der übergeordneten Führung, mit Nebeltöpfen zu werfen. Nirgendwo sonst wird der Einzelfall charakterlichen Fehlverhaltens und ideologischer Verblendung so aufgebauscht wie in der Bundeswehr. Beweise für die geheimen „demokratiefeindlichen Netzwerke“ innerhalb der Truppe stehen indes bis heute aus. 

Diversity-Management, die Umbenennung der Einmannpackung (EPa) zur Einpersonenpackung und Betriebsyoga sollen die Atmosphäre eines Berliner Start-ups imitieren. Dabei sind es gerade die Rahmenbedingungen einer personell völlig ausgezehrten Armee, welche im privaten Umfeld der Soldaten ein Geschlechterverständnis aus der Adenauerzeit erfordern. Bei einer garantierten monatelangen Abwesenheit im Jahr kann die Familiengründung nur gelingen, wenn der Ehepartner Heim und Herd hütet. Die jungen und immer noch überwiegend männlichen Verpflichteten geraten schnell in einen Zweifrontenkrieg, da sich immer weniger Frauen für ein solches Leben gewinnen lassen. 

Wie aber sich konzentrieren auf der Patrouille in Mali, wenn der Scheidungsanwalt zu Hause droht? Zeitenwende – doch die jüngsten Zahlen der Bundeswehr zeigen, daß die Mannstärke auf ein Dreijahrestief gesunken ist. Der ursprünglich bis 2025 vorgesehene Aufwuchs auf 203.000 Soldaten ist mit derzeit unter 182.000 Dienenden nicht realisierbar. An der guten Besoldung aller Laufbahngruppen kann es nicht liegen. Woran aber dann?

In dem 1940 erschienenen Roman „Die Tatarenwüste“ von Dino Buzzati bezieht der Offizier Giovanni Drogo einen Dienstposten in einer abgelegenen Festung am Rande der Welt. Während seine Freunde im Leben weiterkommen, versauert der treu ausharrende Drogo auf der Wacht nach einem Feind, der niemals erscheint. Dienstbeflissenheit wandelt sich in Monotonie, diese in Depression. Als die Tataren nach einem langen und als sinnlos empfundenen Dienst plötzlich aus den Weiten der Wüste vorstoßen, ist Drogo zu alt und krank geworden, um noch kämpfen zu können.      

Dienstbereitschaft gerät zu einer Last des Absurden, wenn sie nicht mit einem sinnbehafteten Koordinatensystem unterlegt ist: eine Aufrüstungspolitik zu forcieren und gleichzeitig das Konzept für ein soldatisches Ethos im 21. Jahrhundert zu generieren, welches sich aus dem Ernstfall Krieg ableitet, ohne kriegslüstern zu sein. Diese Weichenstellung kann nur unter einer breiten gesellschaftlichen Anteilnahme erfolgreich bewältigt werden. Wie muß Landes- und Bündnisverteidigung in Zeiten neu entfachter Feindschaft gedacht werden, wieviel Postheroismus verträgt eine Öffentlichkeit, deren Schutz durch Männer mit Waffengewalt aufrechterhalten wird? Wer kämpft, der muß auch siegen wollen. Diese bitter notwendige Debatte im Angesicht der ukrainischen Ruinenlandschaft weiter auszusitzen ist keine Zeitenwende, sondern eine Verhöhnung des derzeitigen Leides in Osteuropa.