© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Aufstand der Nutzlosen
Welche Bedeutung die massenhaften Entlassungen bei Twitter tatsächlich haben
Björn Harms

Elon Musk hat dem Establishment und seinen medialen Handlangern den Kampf angesagt: „Während Twitter das Ziel verfolgt, den Bürgerjournalismus zu fördern, wird die Medienelite alles tun, um genau dies zu verhindern“, prophezeite der 51jährige vergangene Woche gewohnt angriffslustig. Er wolle das „Monopol an Informationen“ angreifen. Im Zuge seiner Twitter-Übernahme zogen jene Kampfansagen gegen die großen Medienhäuser unter zahlreichen wehleidigen Linken sowie Hoffnung schöpfenden Nicht-Linken, meist ausufernde Debatten über die politischen Auswirkungen des Deals nach sich. 

In den Hintergrund geraten dabei häufig die wirtschaftlichen Aspekte, die mitunter entscheidender sind. Nicht nur die Medienelite will eine Änderung des Status quo tunlichst verhindern, auch das „woke“ Kapital greift ein. Zahlreiche Unternehmen zogen in den vergangenen Wochen bereits ihre Werbepräsenz von der Plattform ab, die im Grunde überlebenswichtig für Twitter ist. Die Einführung einer kostenpflichtigen Verifizierung soll die Einbußen nun möglichst abfangen. Ob Musk dies gelingt, ist jedoch mehr als fraglich, da die Anzahl der Nutzer mit einem blauen Haken dafür dramatisch steigen müßte.

Musk hat das Unternehmen für 44 Milliarden Dollar gekauft, was er als „überteuert“ bezeichnet. Um Kosten einzusparen strich der 51jährige über die Hälfte der 7.500 Stellen und erntete weltweites Entsetzen. In San Francisco reichten einige der Entlassenen bereits eine Sammelklage ein. Auf Twitter posten andere Zurückgelassene wütende Anklagen gegen ihren früheren Chef. Die Linke sehnt einen Zusammenbruch von Twitter herbei, doch der will einfach nicht stattfinden. Und nun ist auch noch Trump zurück auf der Plattform. Grausam! In einer internen E-Mail skizzierte Musk bereits ein „Twitter 2.0“, das von Ingenieuren und „denjenigen, die großartige Codes schreiben“, dominiert wird. Und hier liegt der Knackpunkt. Musk wirft Ballast ab.

Welches Personal vor die Tür gesetzt wird, läßt sich nur durch den Wandel der Tech-Branche in den vergangenen Jahren verstehen: Etliche Tech-Start-ups gründeten sich Ende der 1990er Jahre dank der Arbeit eifriger IT-Ingenieure und Informatiker, die ein bestimmtes Produkt auf den Markt bringen wollten. So verfestigte sich Anfang der 2000er Jahre auch das gesellschaftliche Bild der Computernerds, die Tag und Nacht coden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Da die Wachstumsunternehmen in der „Big Tech“-Branche nicht auf Gewinne angewiesen waren, sondern beständig mit frischem (Risiko)-Kapital versorgt wurden, verselbständigte sich auch der Ausbau der Bürokratie. 

Die Unternehmen wurden mit Personal vollgestopft, das weniger an technischen Durchbrüchen arbeitet, sondern eher auf Probleme im Betrieb angewiesen ist, damit die eigenen Budgets garantiert sind: Administratoren im Management, Personaler im Bereich „Human Resources“, ökologische Berater, Genderbeauftragte und andere sogenannte „E-Mail-Jobs“.

Seine kulturelle Ausprägung findet diese Entwicklung in einem schon länger anhaltenden Trend auf der Videoplattform TikTok. Hier zeigen junge Tech-Angestellte unter der Rubrik „Ein Tag im Leben ...“ ihren gutbezahlten Arbeitsalltag. Morgens geht es zum Yoga, um anschließend den Iced-Matcha-Latte zum Frühstück zu genießen. Auf ein paar Meetings im Büro folgt der ausführliche Besuch der spektakulär eingerichteten Kantine. Dann ein bißchen Tischkickern, Abschalten im Meditationsraum, wieder ein paar Meetings und abschließend ein Rotwein mit den Arbeitskollegen.

Nun aber bahnt sich etwas an, das größer als Twitter ist; etwas, das über das Silicon Valley hinausgeht. Die Rezession steht vor der Tür. Bei den Tech-Konzernen setzt der Job-Kahlschlag ein. Amazon plant die Entlassung von etwa 10.000 Mitarbeitern – und zwar keine Auslieferer oder Lageristen, wie das Unternehmen extra betont. Die Büroklasse steht auf der Abschußliste. Zuvor hatte auch die Facebook-Mutter Meta, deren Aktienkurs spektakulär nach unten rauschte, fünfstellige Jobstreichungen verkündet. Der Online-Bezahldienst Stripe will ganze 14 Prozent seiner Angestellten loswerden.

Diese Massenentlassungen der „professionellen Managerklasse“ (US-Kolumnistin Barbara Ehrenreich) könnten dramatische Auswirkungen haben. Denn der Arbeitsmarkt bietet keinen Platz für die studierten Akademiker. Wohin also mit ihnen? Der Kliodynamiker Peter Turchin beschrieb 2016 in seinem Buch „Age of Discord“ („Zeitalter der Zwietracht“) eine sich abzeichnende gesellschaftliche Instabilität, die meist von einer „Elitenüberproduktion“ ausgehe. Der Wissenschaftler begründete mit seiner These auch die sozialen Unruhen am Ende des Römischen Reiches. Eine ähnliche Dynamik setze in den 2020er Jahren in den USA und anderen westlichen Staaten ein, war er sich sicher. 

Und nun stehen wir an genau diesem Punkt. Da aus den Universitäten beständig Bürokratie-Nachwuchs ausgespuckt wird, könnte die Realität schon bald seine Theorie bestätigen. Anders als in den USA übernimmt im europäischen Raum vor allem der Staat oder die parasitäre „Zivilgesellschaft“ einen Teil des universitären Überschusses und sorgt somit – so seltsam es sich auch anhören mag – für eine gewisse Wahrung der sozialen Stabilität. In Deutschland verfügt jede kleine Stadt und jede Verwaltung über zahlreiche Beauftragte, Administratoren und Berater, die keine Probleme lösen, sondern zwangsläufig auf sie angewiesen sind. Wer anders soll dieses unproduktive Personal einstellen?

Das Beschäftigungsprogramm muß am Laufen gehalten werden. Droht dieses System zusammenzubrechen –  und das ist die eigentliche Botschaft der Twitter-Entlassungen – sind die Folgen fatal: Die von gutbezahlten Jobs ausgeschlossenen Eliteanwärter dürften sich durch einen plötzlichen sozialen Abstieg gedemütigt und hintergangen fühlen. Auf die Verbitterung einer solch riesigen Masse folgt zwangsläufig die Zersplitterung des sozialen Gefüges. Ersatz für die innere Leere läßt sich etwa in radikalisierten Protestformen finden. In diesem Sinne ist die Revolte gegen Musk tatsächlich ein letztes Aufbäumen einer Kohorte woker Mitläufer, denen Böses schwant. Damit gerät nicht allein die Hoheit über die Informationen ins Wanken, sondern das gesamte gesellschaftliche System.