© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Ländersache: Berlin
Paß ma uff, Keule!
Peter Freitag

Nur weil jeder das Urteil so erwartet hatte, wurde es nicht der Paukenschlag, der es eigentlich sein müßte. Am Mittwoch vergangener Woche sprach der Berliner Verwaltungsgerichtshof sein Urteil: Die Wahl zum Abgeordnetenhaus der Hauptstadt muß wiederholt werden. Komplett. 2.256 Protokolle aus sämtlichen Wahllokalen hatten die Juristen sich zu Gemüte geführt, über hundert Schriftsätze der insgesamt über 3.000 Verfahrensbeteiligten erörtert. 

Die Verfassungsrichter monierten: „Schon die Vorbereitung der Wahlen stellt für sich genommen einen Wahlfehler dar, der weitere erhebliche Wahlfehler nach sich gezogen hat.“ Ein Beispiel für das Versagen: Obwohl im Vorfeld des Wahltags am 26. September 2021 bekanntgeworden war, daß Stimmzettel schon beim Drucken vertauscht worden waren, wurden sie nicht in allen Bezirken überprüft. Daher seien in mindestens fünf von zwölf Bezirken falsche Stimmzettel ausgegeben worden. Die darauf abgegebenen Stimmen sind ungültig, faktisch seien die betroffenen Wähler damit von der Wahl ausgeschlossen worden.

Dem früheren fraktionslosen Abgeordneten Marcel Luthe gebührt das Verdienst, diese gravierenden Mängel ans Licht gebracht zu haben, da er mit seinen Mitarbeitern akribisch die falschen oder gar gefälschten Niederschriften der Wahlabläufe untersucht hatte. Luthe legte unterdessen nach und beantragte eine einstweilige Anordnung, wonach bis zum neuen Wahltermin am 12. Februar das Abgeordnetenhaus nicht mehr in seiner derzeitigen, sondern nur in der Zusammensetzung der vorherigen Legislaturperiode tagen dürfe. 

Das freilich steht im Widerspruch zu dem, was der Verfassungsgerichtshof gerade in seinem Urteil geschrieben hatte: Alle bisherigen Rechtsakte des Abgeordnetenhauses blieben wirksam, Parlament und Regierung seien „bis zum Abschluß der (Wiederholungs-)Wahl berechtigt, zur Sicherstellung der Kontinuität staatlichen Handelns ihre jeweiligen Aufgaben wahrzunehmen.“ Wobei die Richter mahnten, daß dabei „das gebotene Maß an Zurückhaltung zu wahren“ sei. Für die Oppositionsfraktionen CDU und AfD kommt dies der Aufforderung gleich, keine Gesetze mehr zu beschließen. In der rot-grün-roten Koalition lehnt man solche Selbstbeschränkung ab, das Parlament bleibe voll handlungsfähig. 

Daß ein Verfassungsgericht die komplette Wiederholung einer Landtagswahl angeordnet hat, ist lange her. So wurde die Bürgerschaftswahl von 1991 in Hamburg für ungültig erklärt, da die CDU gegen das innerparteiliche Demokratiegebot verstoßen hatte. Bei der Neuauflage profitierte die Statt-Partei davon; die Neugründung kam auf Anhieb in den Senat. In Berlin müssen die Parteien unterdessen mit denselben Kandidatenlisten wie 2021 antreten – kurioserweise sogar dann, wenn Kandidaten inzwischen die Partei gewechselt haben; so wie Ingrid Bertermann, die als Grüne in die Bezirksverordnetenversammlung Mitte zog, kurze Zeit danach aber zur Linken wechselte, deren Fraktionsgeschäftsführerin sie umgehend wurde. Wählen darf dagegen sehr wohl auch, wer 2021 noch nicht volljährig war, es im kommenden Februar aber sein wird.