© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Wenn der Wumms verpufft
Bundeswehr: Nichts ist besser geworden seit der groß angekündigten Zeitenwende. Im Gegenteil: Der Truppe geht es schlechter als vor dem Krieg in der Ukraine. Waffen, die man abgab, wurden noch nicht ersetzt
Peter Möller

Zeitenwende klingt nach dem Beginn einer neuen Epoche: Das Alte wird überwunden, ab jetzt wird alles anders, ja besser. Doch je mehr Zeit ins Land geht seit der bemerkenswerten Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz, die er drei Tage nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine am 24. Februar vor dem Bundestag hielt, desto größer werden die Zweifel, daß den Worten schnell Taten folgen. Scholz hatte vor dem Parlament die Einrichtung eines 100 Milliarden Euro umfassenden „Sondervermögens“ zur (Wieder)aufrüstung der Bundeswehr angekündigt und versichert, Deutschland werde künftig das gegenüber der Nato abgegebenen Versprechen, jährlich zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes in die Verteidigung zu investieren, einhalten.

Doch neun Monate nach dieser Ankündigung einer verteidigungspolitischen Zeitenwende, die auch politischen Konkurrenten Respekt abnötigte, ist unter den Fachpolitikern und in der Bundeswehr der Zauber des Neuanfangs längst verflogen. Im Gegenteil: Angesichts des Abflusses von Großgerät, Material und Munition in die Ukraine steht die Truppe in den Augen vieler Experten derzeit schlechter da als vor Kriegsbeginn. „Momentan sind wir noch im freien Fall“, warnte jüngst der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner und forderte eine Verstetigung der finanziellen Mittel. Für die kommende Legislaturperiode seien 75 Milliarden pro Jahr erforderlich, sagte Wüstner. „Sonst muß man gar nicht erst anfangen.“ 

Zum Vergleich: In dem in dieser Woche im Bundestag debattierten Bundeshaushalt für das kommende Jahr sinken die Ausgaben für die Streitkräfte von 50,4 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf 50,12 Milliarden Euro. Hinzu kommen lediglich rund 8,2 Milliarden Euro für Beschaffung, die aus dem Sondervermögen „Bundeswehr“ entstammen.

Bevor beschafft wird, kursiert bereits der Rotstift

Und auch die 100 Milliarden Euro, die für die Ertüchtigung der Bundeswehr zur Verfügung gestellt wurden, sind angesichts der derzeitigen Inflation nicht mehr so eindrucksvoll wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Angesichts von Zinszahlungen, Währungsschwankungen und Preissteigerungen wird die Kaufkraft des Sondervermögens Ende des Jahres nur noch bei etwas über 85 Milliarden Euro liegen, rechnen Experten vor. Die Skeptiker unter ihnen gehen sogar davon aus, daß sich der Betrag, mit dem man einkaufen kann, am Ende der Laufzeit faktisch fast halbiert haben wird.

Vor diesem Hintergrund kursieren im Verteidigungsministerium bereits erste Streichlisten – noch bevor überhaupt für irgendein Projekt, das mit den 100 Milliarden Euro finanziert werden sollte, die Verträge unterzeichnet wurden.

Von den Kürzungen betroffen sind demnach vor allem das Heer und die Marine. So soll unter anderem die Beschaffung eines Nachfolgemodells für den Transportpanzer „Fuchs“ zurückgestellt werden. Auch ein Flugabwehrsystem für den Nah- und Nächstbereichsschutz, das vor allem gegen Drohnen eingesetzt werden kann, wird vorerst nicht beschafft. Angesichts der Szenarien im Kriegsgebiet östlich der Nato-Grenze und angesichts der sich häufenden Berichte von Drohnen über Bundeswehrliegenschaften ein nicht nachzuvollziehender Schritt.

Die Marine muß auf eine fünfte und sechste Fregatte des Typs 126 verzichten. Zudem wird die Anzahl der Korvetten 130 Berichten zufolge von zehn auf sechs reduziert. Auch bei der Zahl zusätzlicher Seefernaufklärer des amerikanischen Typs P-8A Poseidon von Boeing muß die Marine voraussichtlich Abstriche machen.

Auch wenn es bei anderen Rüstungsprojekten, wie etwa der von Scholz in seiner Rede am 27. Februar als Ersatz für den in die Jahre gekommenen Kampfbomber Tornado in Aussicht gestellten Beschaffung des amerikanischen F-35-Kampfjets von Lockheed Martin für die atomare Teilhabe Deutschlands und der Bestellung neuer Transport-hubschrauber besser aussieht und möglicherweise noch in diesem Jahr erste Verträge unterzeichnet werden könnten, wächst nicht nur in der Bundeswehr die Unruhe. „Wir können uns ein Weiter-so nicht erlauben. Die Lage erfordert ein Umsteuern, zügig und konsequent“, mahnte die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Eva Högl (SPD) in der Frankfurter Allgemeinen. Das Bemühen sei da, „ich fürchte, daß das nicht reichen wird“. 

Deutlich schärfer fällt die Kritik des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union, Johann Wadephul (CDU), aus. Er sieht Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in der Verantwortung. Neun Monate nach Ankündigung des Sondervermögens stelle man deprimiert fest, daß das Verteidigungsministerium damit scheitere, die notwendigen Beschaffungsmaßnahmen umzusetzen, sagte er der FAZ. „Es fehlt an politischem Willen und Führung durch Ministerin Lambrecht. Unter ihrer Verantwortung wird die Bundeswehr jeden Tag schwächer statt stärker. Das ist gerade jetzt eine fatale Entwicklung.“ 

Der Verteidigungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Rüdiger Lucassen, sieht seine Befürchtungen vom Februar bestätigt: „Die Ampel verliert schon wieder das Interesse an der Bundeswehr. Wer die Verteidigungsbereitschaft Deutschlands sicherstellen will, muß den regulären Verteidigungshaushalt auf 70 Milliarden erhöhen, die Beschaffung beschleunigen und die Wehrpflicht reaktivieren“, sagte Lucassen. Beschaffungsprojekte stockten aufgrund bekannter struktureller Defizite und fachlicher Inkompetenz der politischen Führung. 

Eine Auffassung, die sogar in Reihen der Regierungskoalition Widerhall findet, etwa beim Obmann der Grünen im Haushaltsausschuß, Sebastian Schäfer: „Vorlagen zur Rüstungsbeschaffung aus dem Verteidigungsministerium lassen nach der Ausrufung der Zeitenwende durch den Bundeskanzler zu lange auf sich warten. Das Geld aus dem Sondervermögen steht bereit, wird bisher aber nicht genutzt.“

In den Unternehmen, so ist unter der Hand zu hören, wundern sich die Manager, daß noch immer keine Aufträge hereinkommen. Weder werden neue Panzerhaubitzen bestellt – als Ersatz für die, die man den Ukrainern zur Verteidigung gegen die russischen Invasoren gab; noch füllen sich die Auftragsbücher mit Radpanzern vom Typ „Boxer“, obwohl laut der neuen Heeresstrukturreform doch die neu zu schaffenden „Mittleren Kräfte“ auf genau dieses Waffensystem angewiesen sind, um zugleich geschützt, aber auch schnell verlegbar zu sein (JF 34/22). „Entgegen den ursprünglichen Erwartungen konnten wesentliche Aufträge insbesondere aus Deutschland noch nicht im dritten Quartal 2022 gebucht werden“, teilte der Rüstungskonzern Rheinmetall mit. 

Im Ministerium reagiert man zuweilen dünnhäutig auf den Vorwurf, die Wehrbürokratie verschleppe die Beschaffung des dringend benötigten Materials. „Selbstverständlich ist es für uns erforderlich, so schnell wie möglich die Rüstungsgüter, die wir an die Ukraine abgegeben haben, in die Bundeswehr zurückzuführen“, betonte ein Sprecher von Ministerin Lambrecht jüngst. Doch bevor man bei der Industrie ein Angebot einholen könne, „ist es erforderlich, daß die Finanzmittel im Haushalt hinterlegt sind“, man brauche also die parlamentarische Zustimmung. „Insbesondere im Beschaffungsamt“, wollte der Ministeriumssprecher betonen, „arbeiten Beamte auf Hochtouren und geben alles dafür, daß die Zeitenwende ankommt“. 

Einheiten kannibalisieren sich weiterhin gegenseitig

Ein Eindruck, den viele Militärs und Verteidigungspolitiker nicht teilen. Was sich bei ihnen neun Monate nach der Zeitenwende-Rede verfestigt hat: Die Aufbruchstimmung, die Bundeskanzler Scholz mit seiner Rede erzeugt hatte, ist längst verflogen. Für seine Ankündigung, „Deutschland wird in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der Nato verfügen“, haben die Generäle und Truppenoffiziere, die unter immensem Aufwand die Einheiten der Bundeswehr, die als Nato-Verpflichtung die Ostflanke des Bündnisses etwa in Litauen sichern sollen, nur ein müdes Lächeln übrig. Hier geht es nicht um neue, moderne Waffensysteme, sondern um Mängel in der persönlichen Ausrüstung der Soldaten, fehlende Ersatzteile oder veraltete Funkgeräte.

Den Soldaten, die mit diesen Mängeln seit Jahren zu kämpfen haben, fehlt angesichts der schleppenden Umsetzung der „Zeitenwende“ vielfach der Glaube, daß sich auf absehbare Zeit etwas grundlegend ändert. An die drei voll ausgestatteten deutschen Divisionen, die es nach dem Willen der Militärplaner im Berliner Bendlerblock in wenigen Jahren geben soll, können Soldaten erst recht nicht glauben, die nach der Rückkehr aus ihrem Einsatz in Litauen ihre Allwetterkleidung und Nachtsichtgeräte wieder abgeben müssen, weil diese in der Bundeswehr immer noch Mangelware sind.

Wie weit der Weg noch ist, den die Bundeswehr zurücklegen muß, damit man wieder von einer Vollausstattung der Truppe reden kann und sich die Einheiten also nicht gegenseitig kannibalisieren müssen, wenn sie in den Einsatz gehen, zeigt das Beispiel der Panzerhaubitze 2000, von denen die Bundeswehr aus ihren Beständen 14 Exemplare an die Ukraine geliefert hat. 

Durch den intensiven Einsatz an der Front, mit bis zu 300 Schüssen pro Tag, wird das Geschütz stark beansprucht. Die Wartungsintervalle, die auf hundert Schuß pro Tag ausgelegt waren, mußten verkürzt werde. Als kürzlich sechs dieser Panzerhaubitzen in Litauen instand gesetzt wurden, mußte ein Geschütz ausgeschlachtet werden. Der Grund: Es fehlt wieder einmal an Ersatzteilen. Offenbar hatte es das Verteidigungsministerium versäumt, rechtzeitig bei der Industrie die notwendigen Ersatzteile zu bestellen. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr: Die Zeitenwende läßt weiter auf sich warten. 

Foto: Schuß einer Panzerhaubitze 2000: Deutschland hat 14 Exemplare aus der Bundeswehr an die Ukraine geliefert